Ist das Alles wirklich?

Menschen und Masken waren schon oft auch ein literarisches Sujet, weil man gut damit spielen und Spannung aufbauen kann.

Menschen, die Masken tragen, sind eine allgegenwärtige Erscheinung: Wer zeigt sich in der Öffentlichkeit, im Berufsleben schon so, wie er sich in seinem Innersten fühlt? Wer zeigt sich überhaupt so? Üblicherweise schirmt man sich ab, verbirgt sich, maskiert sich. Viele aber präsentieren und maskieren sich auch gern als diejenigen, die sie gerne wären, nicht als die, für die sie sich aktuell halten. Da ist - trotz allem Wunsch nach Contenance - auf beiden Seiten viel Platz für große Fehleinschätzungen und Irrtümer!

In der narrischen Zeit des Jahres, dem Fasching, neuerdings aber auch bei Anime- und Manga-Conventions, maskiert man sich aber mit freiem Willen und Freude schrankenlos. Wahrscheinlich sind dann etliche mehr bei sich als im öffentlichen Alltag. Auch schön!

Nach seinem beruflichen Scheitern, seinem persönlichen Ab- und Ausstieg hatte Peter zunehmend doch eines gefunden: Sich selber, die Liebe zu sich selbst, zu seinem wirklichen Selbst, zum unmaskierten Selbst.

Das ist jetzt nicht, wie wenn man einen Schalter umlegt und die Welt plötzlich in einer neuen, spirituellen Qualität erstrahlen würde. Es ist eher so, dass man sich in vielen Situationen plötzlich fragt, warum man das früher so anders, so kompliziert, so verkrampft angegangen ist. Das ist so, dass man sich am Abend in den Sonnenuntergang setzt, nichts zur Ablenkung oder zum Absacken braucht, das man einfach zufrieden auf den vergangenen Tag zurück und in die kommende Nacht vorausschaut. Das ist so, dass man bemerkt, was andere Menschen antreibt, und dass man unglaublich nachsichtig wird. Man akzeptiert sie alle, auch wenn man klar weiß, mit wem man nicht, mit wem man schon Umgang haben möchte.

In so ein Bewusstsein war Peter hinübergewachsen, aber vielleicht hatte er sich auch nur eine Umgebung gesucht, in der er bequem so leben konnte. Es wird wohl von beiden ein Teil gewesen sein. Unbestreitbar aber ist, dass er gelernt hatte, wer er war, was er zu leisten im Stand war, was er machen wollte.

Es war Mitte Juli 2015. Es war ein Landsommertag: Die abgeernteten Weizenfelder leuchteten hellgelb, der Mais, hier heißt er auch Kukuruz, stand halbhoch erst, und auf den Landstraßen lagen Patzen der Erde, die die Traktoren aus den Feldern mitgerissen hatten. Der Himmel war klar und leuchtendblau und riesengroß. An allen Rändern schwammen Wolkentürme, unten flach, nach oben wild barock gewölbt, noch keine gelbgrauen Gewittertürme aber. In der Luft lag das hierher gehörige Aroma von Sonne, von gedroschenem Stroh, es roch gut und fein. Man flog durch diesen Duft, die trockene Hitze, ahnte, wie heiß Metall, Steine und Asphalt jetzt waren, hütete sich vor Berührung, vor Bewegung, vor allem Heftigen, und wachte aus dieser Drögheit erst nach Minuten im Schatten auf.

Peter fuhr oft im Schatten. Er fuhr von der Donau herauf nach Bad Kreuzen. Dort, so war er sich zunehmend sicher geworden, könnte Melanies, sein Sohn vielleicht bei einer Pflegefamilie oder in einer Art Heim untergebracht sein. Er wusste nicht, worauf er sich da berief. Die Hinweise im Keller waren eigentlich keine Hinweise, nur Bruchstücke. Ein mittelbarer Fingerzeig aus einem Zeitungsbericht vom 1. Mai 2010 über die sozialen Aktivitäten von Kirche und Gemeinde in Bad Kreuzen, anlässlich einer Maifeier. Im Bericht fand sich nichts über Melanie oder das Kind, aber auf einem zugehörigen Foto war im Hintergrund deutlich Melanie zu erkennen, die ein Kleinkind an der Hand führte. Der Kleidung und dem Haarschnitt nach war es wohl ein Junge. Er erinnerte sich an sein Erschrecken bei der Entdeckung, dass er wahrscheinlich ein Kind gezeugt hatte, von dem er bis vor Kurzem nichts gewusst hatte. Ein wenig war er stolz auf sich, das akzeptiert zu haben, für das Kind verantwortlich sein zu wollen. Er war aufgeregt.

Die Fahrt führte von Grein aus durch ein enges Tal, in dem die Straße kurvig durch lange Schattenstrecken führte und nur selten sich ein kleiner Sonnenkessel mit Wiese auftat. Er kam an einem Parkplatz vorbei, groß beschildert »Wolfsschlucht«. Einige Autos waren dort abgestellt, er selber war dort noch nie gewesen, nahm sich vor, dort wandern zu gehen, und sah sich schon mit seinem Sohn wild herumklettern. Lächeln. Noch ein paar Kurven, bis sich der Blick auf die Gemeinde auftat. Die Siedlung lag an einem Hang, die Höhenunterschiede zwischen den ersten Häusern und der Turmspitze der an oberster Stelle errichteten Kirche waren bemerkenswert.

Nachdem er nicht wusste, wo er zu suchen anfangen sollte, drehte er vorerst eine Runde durch den Ort, der jetzt, um die Mittagszeit herum, wie ausgestorben wirkte. Niedrige Drehzahl, leise Fahrt. Er würde warten müssen, bevor er irgendwelche Besuche abhielt. Es war fast wie in einer mexikanische Siesta hier in der Mittagshitze.

Bad Kreuzen, ein Kurort. Natürlich gab es eine dementsprechende Einrichtung. An einem Kaufhaus fuhr er langsam vorbei, sodass er sehen konnte, dass hier bis 15 Uhr geschlossen sein würde. Das freute ihn einerseits, andererseits wusste er nun, dass er vor 15 Uhr wohl keine Auskünfte einholen würde können. Ein Gasthof? Nein, zu persönlich, zu verfänglich.

Am Nachmittag war es wohl noch heißer als um die Mittagszeit. Im Geschäft erfuhr er die Lage des möglichen Kinderheimes. Ganz sicher war man sich dort auch nicht. Es hätte ja auch ein Altenheim sein können, oder das Haus, ein ehemaliger Bauernhof wenige hundert Meter vom Ortskern entfernt, war einmal ein solches gewesen. Jetzt gab es ja ein modernes, toll ausgestattetes Landesheim für Senioren.

Peter war nicht angemeldet im möglichen Kinderheim. Eine bissige hagere alte Dame befahl ihm, so kann man es gerne nennen, im Flur zu warten. Der Gang, in den auch eine Stiege aus dem ersten Obergeschoß mündete, war dunkel, nur erleuchtet durch ein halbrundes Fenster über der Eingangstür. Die Wände waren mehr als einen Meter hoch mit einer dunklen Holzlamperie verkleidet, die etliche Schrammen zeigte. Die Türen zu den Räumen des Hauses lagen allesamt tief in den dicken Mauern, die Laibungen waren ebenfalls mit dunklen Brettern verkleidet. Im Eingangsbereich hingen ein Kreuz, ein Weihwasserkessel. Ansonsten waren einige gerahmte Fotografien aufgehängt, darunter ein Gruppenbild mit etlichen alten Personen, zum Teil mit Krücken, zum Teil in Rollstühlen, und auch zwei Bilder mit Kindergruppen, im Halbrund aufgestellt, in Zweierreihen händchenhaltend, offenbar auf einem Spaziergang. Aber jetzt, im Augenblick, wirkte das Haus leer, trotz der Sommerhitze kühl, fast kalt, abweisend. Keine Spur von Kindern. Aber die Bilder, die gab es ...

Eine der Türen hinter der Treppe öffnete sich knarrend, unvermittelt. Über den Schleifbetonboden des Ganges näherte sich schlurfend die grimmige Alte mit einem Pfarrer in schwarzer Soutane, die vorne mit 33 schwarzen Stoffknöpfchen verschlossen war, um einen sich fassförmig gewaltig vorwölbenden Bauch zu halten. Peter fühlte sich augenblicklich in seine Kindheit versetzt, in der die beiden, dieses seltsame Paar, noch als fraglos ehrenwerte Dorfautoritäten durchgegangen wären. Der Priester war gute 60 Jahre alt, augenscheinlich mit einem zwar dicken, aber schlaff-teigigem Körperbau, mit unreiner, rosiger, angeschwitzter Haut und unstetem Blick. Die vermutete Konsistenz seines Körpers leitete Peter von der Beschaffenheit seiner Wangenbacken und seines gewaltigen Hängekinns, vor Ort besser als »Goder« bekannt, ab. Der suchende und ausweichende Blick machten den Pfarrer in Peters Augen unausstehlich, und so war er auch nicht überrascht, als ihn der Priester in nuschelnder und leiser autoritätsheischender Art ansprach. Wenn man einer solchen Ansprache folgen wollte, dann musste man sich einfach anstrengen, zuzuhören, zu verstehen, man musste ihm Konzentration und Aufmerksamkeit schenken, diesem sich als Gottesmann Maskierenden. Daneben schlackerte die dürre Alte, die einen feurigen Blick bekommen zu haben schien, mit dem sie den Gast offenbar zusätzlich zwingen wollte, zuzuhören, sich zu unterwerfen.

»Womit können wir Ihnen helfen, lieber Freund?« In dieser scheinbaren Frage lag - konträr zu den verwendeten Phrasen und zur süßlichen Artikulation - keinerlei Freundlichkeit oder spürbares Entgegenkommen. Als Peter erklärte, mühsam immer Details einflicken müssend, dass er ein Kind suche, wahrscheinlich einen Jungen, so um die 10 Jahre alt, Melanies Beschreibung als Mutter einfügend, winkte ihm der Pfarrer ab: »Wir wollen hier keine Kinder!« Damit war das Gespräch beendet., Peter wurde von der Frau aus dem Haus gewiesen, die hinter ihm sofort die Tür zuzog und hörbar zwei Mal absperrte. »Eine seltsame Begegnung, irgendwie außerirdisch!«, dachte er, als er sein Auto startete. Was sollte er wohl als Nächstes tun?