Texte
Ich schreib schon wieder was Neues, es schreibt durch mich. Derzeit ist es unlesbar und unbrauchbar.
Textfragmente hab ich mal auf diese Subsite verschoben. Vielleicht sind es aber nur vorübergehende Gedanken, unredigiert. Sorry!
Aber weil es hier passt: Wenn der Verkauf des ersten Buches es hergibt, dann werde ich mir für mein neues Machwerk selbstverständlich Lektorat und Korrektorat leisten ...
Verlieren - Verlust
Man kann ein Ding verlieren.
Man kann einen Menschen verlieren.
Man kann in einer Art Wettbewerb oder bei einer Wette verlieren.
Ist man dann ein Verlierer, ein Verlierender, ein Verlorener?
Ist verlieren nicht ein Verb, beschreibt einen Vorgang?
Melanies Kindheit
Wir neigen dazu, anzunehmen, dass die Menschen, denen wir begegnen, die gleichen Beweggründe haben wie wir selber. Die Lebensziele mögen ja verschieden sein, aber auch nur mit Maßen: Der eine liebt Autos, die Nächste geht gerne Tanzen, der Dritte versinkt im Fußball ...
Wenn jemand gar nicht mehr mitspielen will in den etablierten Lebenswelten, dann ist er zuerst einmal verdächtig. Sofern das Abweichungs-Durchhaltevermögen ausreicht, damit irgendwie berühmt zu werden, gibt es wieder Akzeptanz: Man ist dann »schrullig«, zumindest.
Tatsächlich unterscheiden sich die Menschen aber ganz beträchtlich. Die Unterschiede werden aber selten zum Gesprächsthema gemacht. Der Smalltalk bleibt flach und an der Oberfläche.
Melanie war eine so ganz andere. Der Smalltalk lag ihr auch nicht besonders.
Melanie Gschwendter war am 18.2.1967 unter dem Sternzeichen Wassermann in Österreich, im nordöstlichen Mühlviertel geboren worden. Gschwendtner hieß sie, weil ihre Mutter so hieß, einen Vater gab es zu ihrer Geburt nicht, und sie hatte auch später nie einen solchen kennengelernt. Das Leben war entbehrungsreicher als heute, insbesondere im damaligen Mühlviertel, und so lebte ihre Mutter mit der kleinen Melanie bei ihren Eltern, den Großeltern Melanies, in einem alleinstehenden Bauernhof in der Nähe von St. Thomas am Blasenstein.
Dieses St. Thomas war - aufgrund seiner Lage mit weiter Sicht in das Land, aufgrund des Umstandes, dass dort einige gewaltige Granitblöcke offen in der Landschaft liegen - wahrscheinlich schon in Vorzeiten Kultstätte. Nun sitzt dort, neben den alten Opferstätten, eine Kirche, die als Besonderheit einen mumifizierten Leichnam ausstellt, den »luftgeselchten Pfarrer«, den man gegen Einwurf von Münzen in einen Automaten gern besichtigen kann. Dann kann man im Dorfgasthaus dinieren und sich vorher - wenn erforderlich - durch Hindurchklettern durch einen verdrehten Spalt in einem Granitblock, der sogenannten »Kreuzwehlucke«, eben von Schmerzen im Zusammenhang mit der Wirbelsäule befreien, so geht die Mähr. Durchpassen muss man natürlich auch durch den Spalt, was vom Körperumfang abhängt, weswegen man das Experiment günstigerweise vor dem Wirtshausbesuch unternehmen sollte.
Das Leben war karg auf den Kleinbauernhof von Melanies Großeltern: Das Wasser musste vom Brunnen geholt werden, die Toilette war mehr oder weniger im Stall, ein Plumpsklo, das ebenso auf den Misthaufen entwässerte wie der Stall. Das Essen reichte gerade über das Verhungern hinaus, weil reich waren sie alle nicht am Hof: Die ledige Mutter half in St. Thomas in der Schule, in der Kirche und im Dorfgasthof aus und bekam dafür allenfalls ein paar Schilling (die damalige Währung in Österreich, teilbar in 100 Groschen). Die Essensreste, Mehl, Zucker und Schmalz, die sie nach Hause brachte, waren zum Überleben notwendiger als das wenige Geld, das man vor Ort ja auch kaum ausgeben konnte.
Glücklich war sie nicht, Melanies Mutter, und sie sprach auch kaum, und wenn, dann brabbelte sie unverständlich vor sich hin. Verstehen konnte man sie allenfalls durch die unterschiedlichen Grade von Erregung in ihrem Gestammel, eben im Zusammenhang mit dem jeweiligen Anlass. Sie war zum Beispiel einer der Menschen, von denen Beweggründe und Lebensprämissen schwer nachzuvollziehen gewesen wären. Sie starb im Jahr 1985, als Melanie gerade 18 Jahre alt geworden war.
Eine leichte Jugend hatte sie nicht gehabt, die Melanie: Ihre mehr oder weniger unerreichbare Mutter auf der einen Seite, die sie nicht und nie vor ihren griesgrämig-bösartigen Großeltern auf der anderen Seite beschützen konnte, wahrscheinlich auch gar nicht wollte, wahrscheinlich gar nicht wusste, dass es hier ein Schutzbedürfnis gab, zumindest am Anfang.
Der Großvater, Kleinbauer, arbeitete nebenbei auch bei der Straßenmeisterei, wo er im Sommer mit Instandsetzungsarbeiten, das restliche Jahr über mit Schneeräumung, Splitstreuen, mit dem Aufstellen von Schneegittern und Begrenzungspfählen beschäftigt war, tageweise und je nach Anfall. Die Winter waren kalt in Melanies Kindheit, die Gegend liegt hoch, so um die 700 Meter über den Meeresspiegel herum.
Melanies Großvater hielt sich für schlau und hatte mit allerlei Spekulationen und Tricks reich zu werden versucht. Wahrscheinlich gab es viele Schlauere, weil er letztendlich das meiste seiner sowieso schon kleinen Landwirtschaft verloren hatte, zum Teil an echte Betrüger, die man schon damals strafrechtlich belangen hätte können, sofern man ihrer habhaft werden hätte können, zum Teil an etablierte, rechtmäßige Halbseidene, die ihn zu wilden Spekulationsgeschäfte überreden und so ausnehmen konnten. Und so war Melanies Großvater, der Schlaue, griesgrämig geworden, aufbrausend, ein Getriebener seiner Verfolgungswahnvorstellungen, selbst uneinsichtig und gnadenlos gegen alle vermeintlich schwächeren: Gegen seine Frau, an die sich Melanie nie anders erinnern konnte als an eine aus den Schatten des Hauses kurzzeitig herausfließende krächzende Hexengestalt, gegen Melanies Mutter, die unsägliche Angst vor ihrem Vater zu haben schien und sich stets wortlos, zitternd, mit nassen Augen unterwarf, gegen Melanie, aber das war eine andere Sache, eine wichtige Sache.
Solang Melanie ein Baby war, wurde sie vom Großvater mehr oder weniger ignoriert. Vielleicht beschwerte er sich ja über das Kind, vielleicht machte er Vorhaltungen, beschimpfte Melanie, aber er wandte sich nie direkt an sie, sodass das Kleinkind zwar das Poltern bemerkte, die schlechte Stimmung. Melanie bemerkte auch, dass ihre weinende Mutter sie hinaustrug, auf den Dachboden, wo sie im Winter eine kleine kalte Kammer bewohnten, im Sommer zum Waldrand in ein Moosbett. Aber mehr war da nicht, nicht erinnerlich: Kein Drücken, kein Herzen, kein Trost.
Als Melanie dann älter wurde, kam sie auch kaum unter andere Kinder. Der Weg zum Kindergarten wäre zu beschwerlich gewesen, hätte die Mutter an ihrer Arbeit gehindert, teilte man ihr mit, und dass man sich das Kindergartengeld nicht leisten könne.
Eines Sommervormittags, so erinnerte sich Melanie, als die Fruchtfliegen in den Lichtstreifen, die durch die Fensterläden hereinfielen, zu tanzen begannen, eines feuchtheißen Vormittags im Sommer, hatte sie ihr Großvater, der in der Stube herumwerkte, seltsam angesehen. Er hatte sie befehlend zu sich gerufen, ihr die Hand auf den Kopf gelegt, auf die mittelblonden, zu Zöpfen geflochtenen Haare, auf die Schulter. Dann hatte er ihren Hals umfasst, mit seiner rechten, riesenhaften, schwieligen, rissigen, stinkenden Hand, die Hand fest geschlossen. Als Zuseher hätte man meinen können, er hätte angesetzt, Melanie zu erwürgen. Diese Angst hatte das Mädchen nicht, weil sie noch nicht wusste, wie dieses Erwürgen aussehen könnte, wie anfühlen, welche Konsequenzen es hätte. Aber wohl fühlte sich Melannie nicht. Dann ließ der Alte von ihrem Hals ab, rutschte mit der Hand hinunter, in Höhe des Bauchnabels, und schöb ihr die alte ausgewaschene Flanellbluse hoch, begrabschte sie mit seinen heißen, hartrissigen Händen am Bauch, am Rücken, zog ihr die rote Strumpfhose, die sie trug, über das Gesäß herunter, und bemusterte sie von vorn und hinten ausgiebig mit Augen und Händen. Melanie hielt erschrocken den Atem an, damals. Großvater sagte: »Ich muss nachsehen, ob Du gesund bist.« So oder so ähnlich sagte er, und er sagte auch, dass alles in Ordnung sei, dass er sehr zufrieden sei, dass sie sich nicht aufzuregen bräuchte, dass es niemand wissen müsse.
Melanies Großvater war also - auch er ist schon lange verstorben - ein »Kinderschänder«, was gemeinhin als eines der größten Verbrechen gilt, gleichzeitig aber auch tabuisiert ist. Man will da gar keine Einzelheiten wissen.
In Melanies Leben gab es aber Einzelheiten, die hier aber auch nicht en detail dargelegt werden sollen. Nach dieser »Erstbegegnung« machte sie sich schon wilde Gedanken, aber angesichts der ansonsten vorherrschenden wütenden Grimmigkeit des Großvaters war diese Begegnung ja bei Weitem nicht so gewalttätig-furchteinflößend gewesen wie im sonstigen Alltag. Letztendlich, so legte sie, das Kind, es sich zurecht, war ja nichts Arges passiert. Letztendlich war ja eine ganz neue Art Bindung zum Großvater entstanden, eine Bindung, von der nur sie beide etwas wussten, die sie intim verband. Irgendwie sollte sie ja auch Rechte ableiten können aus dieser Geheimverbindung. Sie schob das aber immer auf ein unbestimmtes Später auf, sie wusste letztendlich nicht, was da passierte.
Des Großvaters Annäherungen setzten sich fort, aber wir wissen nicht, in welchem Ausmaß. Melanie verhielt sich ruhig, sie sah sich von außen zu, sah hinein in eine unwirkliche, zähflüssige Welt ohne Hitzen und Spitzen. Natürlich wurde das Kind schwer traumatisiert, auch wenn man beim genauen Hinschauen durchaus noch Details auseinander klauben, begreifen kann. Wahrscheinlich entwickelte Melanie dissoziative Störungen, bei denen einzelne Bestandteile der Persönlichkeit, der Wahrnehmungen und Reaktionen quasi auseinanderfallen, nicht mehr zusammenpassen, bei der/dem Betroffenen auch den Eindruck erwecken können, man hätte sich aus seinem Körper gelöst und sähe sich von außen zu. Das mag beim Zahnarzt ganz nützlich sein, insbesondere bei Wurzelbehandlungen, aber die Menschen, die das können, machen es bewusst und situationsbezogen. Melanie sollte ihr ganzes Leben nie wieder, allenfalls in einzelnen Augenblicken, in sich zurückfinden. Niemand erkannte ihr Problem, niemand konnte ihr passend - oder sogar fachkundig - helfen. Das ist ein schreckliches Schicksal.
Eines Tages, Sie mochte so um die 10 Jahre alt gewesen sein, gab es einen riesigen Streit. Großvater und die Frauen schrien sich an, gingen körperlich aufeinander los. Da musste Großmutter weggegangen sein, den Melanie sah nie wieder ihren Schatten aus dem Dunkel des Hauses herausfließen. Wie sich im Verlauf der kommenden Zeit herausstellte, wusste auch sonst niemand, wohin Großmutter gegangen war. Großvater wurde immer einsilbiger, Melanies Mutter zog ins Erdgeschoß, und die Dachkammer blieb Melanie alleine. Ihre Mutter nannte sie fortan - mit einem kecken, herausfordernden Unterton - »Melanze«, und ihr Großvater berührte sie nimmer.
Zu dieser Zeit hatte sich Melanie schon angewöhnt, vom Bier, auch vom Wein, sogar vom Schnaps zu kosten, wenig, aber sie genoss das heitere Hochgefühl, das sich nach ein paar Schlucken einstellte.
Sie zog auch ihre Runden, erfuhr, dass sie zur Schule hätte gehen sollen, und ging fortan auch ab und an zum Unterricht. Sie wurde gehänselt, weil sie leicht schielte, und das schmerzte sie. Es gab irgendwelche Diskussionen mit einer »Fürsorge«, aber letztendlich ging dies alles an ihr vorbei, berührte sie nicht, weil sie war nicht greifbar für die ordnungsbedachten Instrumente dieser »Fürsorge«. Aber schlau war sie, und so lernte sie schnell, was wichtig war zum Leben.
Melanie zog ihre Runden, und sie traf sich auch mit anderen Jugendlichen, vorzugsweise mit etwas älteren, und sie war stolz, von ihnen akzeptiert zu werden. Man bemerkte sie, scherzte mit ihr, spielte mit ihr, verlangte Mutproben, um dazugehören zu dürfen, gab ihr Alkohol, so viel, dass sie mehrfach im Rausch das Bewusstsein verlor.
Um ihr zwölftes Lebensjahr herum dürfte sie in einem solchen Rausch vergewaltigt worden sein. Sie wusste über alles Bescheid: Über Sex, über das Kinderkriegen, über Vergewaltigungen, und deswegen wunderte sie sich, dass sie körperlich ziemlich unversehrt geblieben war. Der größte Schmerz beim Aufwachen kam vom Kater, der Rest war weitgehend unnötiger stinkender Schleim, vermischt mit Blut, zerrissene verdreckte Wäsche. Es war genau so wenig dramatisch wie Großvaters Grabschereien, befand sie, und brachte sich wieder in Ordnung. Keine Vorwürfe, keine Anzeigen.
Wissen wollte sie aber schon, wer sie vergewaltigt hatte. Sie erinnerte sich an die eigenartige Verbundenheit mit dem Großvater. Letztendlich fand sie es auch heraus: Es waren mehrere Burschen gewesen. Einen Einzelnen konnte sie also nicht an sich binden.
Es war noch viel ärger: Fortan galt sie in der Gegend als Hure, und aller möglichen Männer machten sich an sie heran, vergewaltigten sie, missbrauchten sie, demütigten sie und zerstörten ihren Ruf, weil »geile Huren« das ja so wollen.
Unschuld, Naivität, Verkennung
Grein ist eine Stadt in einer Donaubiegung, dort wo das Nordufer zu Oberösterreich gehört, das Südufer zu Niederösterreich. Es beginnt dort der Strudengau, der flussabwärts bis Ybbs-Persenbeug führt, und ehemals ein Bereich wilder Strömungen und Strudel war. Durch die Errichtung des Donaukraftwerks Ybbs-Persenbeug - langgeplant schon ab den 1920er-Jahren, aber immer wieder in den Verwerfungen der Geschichte stecken geblieben und erst 1959 fertiggestellt -, hat der Strudengau seine namensgebenden Schrecken verloren und ist zu einem malerischen Touristenziel geworden. Im Norden das Mühl- und das Waldviertel mit ihren runden Granitbrocken und engen Klammen, im Süden eher das Kalkgestein der Alpen; bei der Neustadtler Platte ist die Donau offenbar nicht den geologischen Grenzlinien gefolgt, sodass wir hier auch in Niederösterreich den Granit der ehemaligen Böhmischen Platte finden. Es ist einfach schön dort, wildromantisch, und auch Grein ist ein wundervolles Mittelalterstädtchen mit einer bemerkenswerten Burg.
Zum Donauufer hin gibt es Kaffeehäuser, auch mit Terrassen, von denen man die breite Donau, die Schiffsanlegestellen, den Schiffsverkehr auf der Donau beobachten kann. Als Kellnerin sehen sie dieses Panorama jeden Tag, bei strahlendem Sonnenschein, bei bedecktem Himmel, bei Nieselregen. Nur bei Wolkenbrüchen und im Winter wird die Terrasse nicht benutzt, der Betrieb erfolgt nur in der Gaststube, von der aus der Ausblick doch ziemlich eingeschränkt ist. Als Servierkraft sehen sie aber noch viel mehr die Gäste, einerseits natürlich als zu bedienende und zahlende Kundschaften, andererseits ein klein wenig auch als Menschen mit ihrem Lachen, ihrer Verschlossenheit, ihrem Zorn, ihrer Trauer vielleicht sogar.
Anfang Mai 1980 hatte es an warmen Nachmittagen doch 20 Grad Celsius. Das Wetter war stabil und angenehm, nur Einzelwolken zogen über den Himmel und beruhigten, dass es schön bleiben werde. Aber vielen Menschen schien es doch noch ein wenig zu kühl zu sein: Zwar war das Gastzimmer des Kaffees voll, doch auf die Terrasse wagten sich nur wenige Leute. Darunter ein einsamer Motorradfahrer, einer von der Sorte, die auf wild machen. Der setzte sich ganz nach vorn, an das Geländer, wo auch der leiseste Windhauch zu spüren war, und begann, sich einhändig eine Zigarette zu drehen. Nach einigen Minuten kam ein Mädchen, noch keine 15 Jahre alt, machte einen koketten Knicks, sagte irgendwas, was die Serviererin nicht verstehen konnte, und setzte sich zum Motorradfahrer, aber nicht gegenüber an den Tisch, sondern an die Schmalseite, mit dem Rücken zum Lokal, und begann sofort, sich zum Motorradfahrer hin zu lehnen und zu tuscheln. Tatsächlich handelte es sich um die dreizehnjährige Melanie, die auch tatsächlich versuchte, den Rocker anzumachen, damit er sie mitnähme, hinausführte in die weite Welt. Daraus wurde aber nichts, gar nichts passierte, außer dass der »Höllenengel« aufstand, wegging und an der Theke zahlte. Auch Melanie trollte sich. Sie hatte nichts konsumiert, aber man hatte sie gesehen, ihr Verhalten gesehen.
Die Kellnerin wurde von einer grollenden Eifersucht erfasst, eigentlich einem wilden Neid, wie denn dieses junge Mädchen sich Freiheiten nehmen konnte, die sie selber sich ihr ganzes Leben lang nicht einmal konkret zu denken gewagt hatte. In den nächsten Tagen erzählte sie ungefragt jedermann und auch -frau von ihren großen Sorgen um das Mädchen und ihrer moralischen Entrüstung über den Rocker.
Das Mädchen bemerkte zwar, dass man über sie zischelte, sie wusste aber die Inhalte nicht. Sie forschte auch nicht nach, es konnte nicht so wichtig sein. Sie flirtete weiter eifrig mit Buben und Männern, das heißt, sie versuchte zu flirten, das zu machen, was sie für reizvoll und anziehend hielt. Sie ging auch mit ihnen ins Bett, aber das hatte - aus ihrer Sicht - nichts sonderlich Geiles an sich. Nackt zu sein, berührt zu werden, das kannte sie schon von Kindheit an. Und wenn es sich jetzt auch so anfühlt, als würden hier Stereotype bedient: Sie fand Sex nicht sonderlich erregend, weil die jungen Burschen, die mit ihr schliefen, die waren immer schnell fertig, kümmerten sich nicht sonderlich um sie, und Männer, so erwachsene Männer halt, nicht bloß an Jahren gealterte Wesen mit Y-Chromosom, denen war sie offenbar nicht attraktiv genug, was sie sich aber nicht recht erklären konnte. Indem sie in ihrem Verhalten also nicht von wild triebhaftem Verlangen geleitet wurde, ihrem Gegenüber lediglich ihren Körper hingab, selbst mehr von Aufmerksamkeit und persönlichem Respekt angetrieben, war und blieb sie auf eine seltsame Art unschuldig. Es war da aber auch eine gewisse Sammlerleidenschaft, nicht darum, um sich mit anderen zu vergleichen, sondern vielleicht eher mit dem Ziel, den Einen, den Besten, den Richtigen aktiv zu suchen, ja nicht zu versäumen.
Mit ihrer Umtriebigkeit stieß sie natürlich auch auf Sadisten, Perverslinge. Aber weil sie eben so unschuldig und unvoreingenommen war, passierte ihrer Seele niemals etwas Inkurables. Und auch körperlich blieb sie immer ohne Dauerschäden. Jedenfalls kam sie in ihrer Lebensart aber einigermaßen in der Gegend herum.
Wegen des Geredes distanzierte sich ihre Familie, Mutter, Großvater, zunehmend von ihr. Seltsam! Sie dachte, dass solche Gerüchte hier doch keine Rolle spielen könnten. Seltsam und egal! Melanie erkannte, dass sie von zu Hause nicht mehr viel zu erwarten hatte, brauchte Geld, suchte sich Arbeit, ungelernt, als Packerin in einem Fleisch verarbeitenden Betrieb, nahm sich eine kleine Wohnung in Pabneukirchen. Sie wusste fast sofort: Das konnte nicht ihr Leben sein. 1985, um ihr achtzehntes Lebensjahr herum, setzte sie deswegen einen Plan um: Sie hatte etwas Geld gespart und ging damit nach Linz, um dort ihre Spielchen mit den Männern professioneller zu spielen, davon zu leben. Und wenn es sich ergeben sollte, dass dort der Eine kommen würde, der Richtige, der, der sie zur Frau nehmen würde, dann sollte das auch recht sein. Sie lachte bei diesem Gedankenspiel, doch im Grunde ihres Herzens glaubte sie ernsthaft daran, und ein ganz winziges Wenig hoffte sie, dass das Leben sogar für sie ein solches Geschenk bereit halten würde.
In rückblickender Sichtweise muss man Melanie in doch vielen Lebensbereichen als stockkonservativ charakterisieren: Sie wusste, wie die Angelegenheiten des Lebens zu laufen hatten. Sie konnte das in Relation setzen zu der Art, wie sie es erlebt hatte, wie sie es gelernt hatte, wie sie es sich besser wünschte. Ein starker Mann war für sie einer einer, den sie, die sich doch für stark hielt, nicht dominieren konnte, dem sie nicht ihren Willen aufzwingen konnte, der sie immer wieder überraschen würde können mit Neuem, Schönen. Dieser Mann musste in allen Belangen klüger, origineller, stärker und mächtiger sein als sie. Wie hätte sie der starke Mann sonst beschützen können. Sie sehnte wich nach einer derartigen Erweiterung, einem »Upgrade«.
Es kam natürlich, wie es kommen musste. Ich kürze ab: Sie fand sich einen Zuhälter, einen Luden, einen Strizzi, dem man aber doch zugestehen muss, dass er - auf seine Weise - seine Angelegenheiten in Ordnung hielt. Dazu gehörte auch, dass Melanie die für sie vorgesehene Rolle nicht einen Millimeter verlassen durfte.
Wenn man über Frauen witzelt, dann werden oft Schuhe, Handtaschen, Mode und Kosmetik aufs Tapet gebracht. Seltsamerweise gibt es Frauen, die da ohne Reflexion und Relativierung mitspielen. Diese Themenbereiche waren aber die einzigen, wo ihr Lude Melanie noch einen gewissen Freiraum einräumte, sofern es nicht zu teuer wurde.
Die Tage vergingen einer nach dem anderen, und sie unterschieden sich durch die Zeitpunkte der Sonnenauf- und untergänge, durch das Wetter, durch den allmählichen Wechsel des Warenangebots in den Geschäftslokalen und der Fernsehsprecherinnen und -sprecher. Und so verflossen die Jahre ohne wesentliche Ereignisse oder Veränderungen.
Zu den allmählichen Veränderungen, die immer stattfinden, die unser Leben auf den Kopf stellen können, bevor wir es bemerken, gehörte, dass Melanie, in einen lethargischen Trott verfallend, zunehmend Alkohol trank, wobei die anfänglichen Räusche in ihrer Wildheit immer unerreichbarer wurden. Es war, wie wenn man einen Holzofen ständig nachheizt, mit einzelnen Spänen, Stück nach Stück. Nie brennt die Flamme heftig, nie wird es warm, nie kann sich der Ofen gründlich freibrennen. Das Mädchen rauchte auch Zigaretten, und dazu hatte sie noch begonnen, verschiedene Pillen zu nehmen: Frei erhältliche Vitamine, Spurenelemente, Schmerzmittel, im Milieu erhältliche Uppers und Downers. Niemand hätte je feststellen können, wie diese Mischung tagesaktuell wirkte, weil sie nie nüchtern war. Jeder, der sie kannte, dachte, dass ihr Lebenswandel nicht gesund sein könne, aber sie war noch jung, und so blieb es bei kurzen Sorgegedanken.
Der damalige Zuhälter hieß übrigens nicht Pavel. Er war quasi ein Mitbewerber von Alfred, Pavels Boss. Dies konnte ihm auf die Dauer gesundheitlich nicht zuträglich sein, und so wurde er im Auftrag von Alfred zu den Klängen von Bruce Springsteens »Streets of Philadelphia« von Pavel, der ausnahmsweise ein paar Begleiter mitgebracht hatte, ausführlich beraten, eine andere Erwerbstätigkeit anzunehmen, was er nach einem mittellangen Krankenhausaufenthalt angeblich auch versuchte. Österreich bereitete sich auf seinen Beitritt zur Europäischen Union mit dem Jahreswechsel 1994 auf 1995 vor, und vielleicht hat Melanies Ex-Lude irgendwo in einem anderen EU-Staat sein Auskommen gefunden. In Linz hörte man jedenfalls nichts mehr von ihm.
Melanie, wie sie da so verlassen und verloren herumstand in der Wohnung ihres verunglückten Freundes, erweckte Pavels Mitleid. Er nahm sie mit, um sich vorerst um sie zu kümmern.