Texte

Sie sind hier: Spaziergänge im Theresienthal

Prinzipiell: Ich schreib schon wieder was Neues, es schreibt durch mich. Derzeit ist es unlesbar und unbrauchbar.

Bisherige Textfragmente hab ich mal auf diese Subsite verschoben. Vielleicht sind es aber nur vorübergehende Gedanken, unredigiert. Sorry!

Aber weil es hier passt: Wenn der Verkauf des ersten Buches es hergibt, dann werde ich mir für mein neues Machwerk selbstverständlich Lektorat und Korrektorat leisten ...

Verlieren - Verlust

Man kann ein Ding verlieren.

Man kann einen Menschen verlieren.

Man kann in einer Art Wettbewerb oder bei einer Wette verlieren.

Ist man dann ein Verlierer, ein Verlierender, ein Verlorener?

Ist verlieren nicht ein Verb, beschreibt einen Vorgang?

  • Über die Wunschinhalte kann man wild diskutieren. Mit wenigen Verlaufsabweichungen bewegen sie sich auf uralten Bahnen, stereotypisch sozusagen: Vater, Mutter, Kind, Haus, Verkehrsmittel. In nicht so reichen Zeiten wie jetzt waren das ja quasi überlebensnotwendige Besitztümer, wobei aber die Ansprüche zum Teil auch eher bescheiden waren. Heutzutage, es geht uns ja wirklich gut, werden diese »Lebensziele« noch immer hoch gehalten, und um sie eben hoch zu halten, driften wir in den übertreibenden Luxus: Riesenhäuser, Riesenautos, alles riesig.

  • Wann und warum der Mensch sich welche Lebensziele formuliert, das wäre wohl interessant zu erforschen.

    Wenn man zur Welt kommt, als Baby, als Kleinkind, da hat man ja vermutlich alles, was man will und braucht, vorausgesetzt man lebt im Frieden und wird von den Eltern, vom Umfeld angenommen. Nach und nach löst sich der junge, jugendliche, adoleszente Mensch dann aus seinen Geburtsfamilienbindungen, manche mehr, manche weniger, und geht mit eigener Kraft in die große, weite Welt, manche mehr, manche weniger. Allerlei passiert, und so ganz nebenbei kommen auch Ideen, wie das eigene Leben aussehen soll, oft auch, wie das Leben in einer Partnerschaft aussehen soll.

  • Das soll hier aber gar nicht analysiert oder besprochen werden; es soll nur zeigen, dass wir Lebensziele haben.Sie können sich leicht vorstellen, dass wir alle an der Umsetzung unserer Lebensziele arbeiten, manche zielstrebiger, manche eher nebenbei. Und nochmals nebenbei machen wir etwas Zweites, das uns das Erreichen unserer Lebensziele sichern kann. Wir versuchen, negative Einflüsse auszuschalten. Wir versuchen, »feindlichen Plänen« entgegenzutreten. Tatsächlich, ohne es aber auch auszusprechen, fürchten wir den Zufall. Die Phänomene dieses Zufalls sind auch jetzt, da wir gern glauben würden, die Stochastik und Big Data könnten wunderbar damit umgehen, noch nicht geläufig, sodass einleitend ein paar Bemerkungen hierzu gemacht werden dürfen. Und Sie werden auch ausdrücklich ersucht, sich eine eigene Position zu suchen, dies und die nachfolgenden Erzählungen aus den Gesichtspunkten ihrer Position verstehen zu wollen. Ich darf dazu vorausschicken, dass ich als Autor, eigentlich nur Chronist der dargelegten Ereignisse, manches zwar verbal verstehe, als Ereignis auch zur Kenntnis nehmen kann, aber doch ein wenig unglücklich-ratlos vor dem einen oder anderen Trümmerhaufen stehe, den die Protagonisten hinterlassen haben - bzw. Für Sie als Leserin oder Leser - hinterlassen werden.

  • Zum Zufall also, der die Menschen seit geraumer Zeit beschäftigt als Frage: Gibt es so etwas wie ein Schicksal, oder ist unsere Welt ein grausame, nur zufällige? Viele Philosophen beschäftigten sich schon mit diesen Fragen, Religionen sowieso.

  • Da gibt es die Sicht, dass der Lauf der Welt (durch einen Gott) vorherbestimmt (prädeterminiert) wäre. Sich gegen sein Schicksal aufzulehnen müsste in einer solchen Welt ja Teil der persönlichen Schicksalsgeschichte sein, könnte also de facto nichts am vorherbestimmten Lauf der Geschichte ändern. Wozu also irgendetwas tun? Irgendwie liegt hier auch ein Dilemma für allmächtige, allwissende, unendliche Gottheiten begründet: Gibt es dann überhaupt so etwas wie Schuld, Sünde? Kann ein unfreier Mensch überhaupt sündhaft sein? So kann man lange weiter tun, innerhalb logischer Beweisketten findet man keine Lösungen für monotheistische Religionsgemeinschaften.

  • Und dann gäbe es eben die freie, zufällige Welt. Die erfordert schon einiges Vertrauen in das Wesen der Natur, sich nicht schlagartig zu verändern. Die erfordert einigen Wissen und Können, in den Mechanismen dieser Welt bestehen zu können. Und irgendwie ist man mit zunehmendem Wissen heilfroh, dass da nicht - sozusagen »von Außen« - allerlei unerwartete Kräfte, Felder, Gottheiten und esoterische Phänomene hineinpfuschen in das abgesicherte und brauchbare Weltbild. Ich muss allerdings leider auch feststellen, dass unter dem Deckmantel des Wissens viele Betrüger und Schlangenölverkäufer ihre halbseidenen Geschäfte zu machen versuchen und auch machen.

  • Ich bin, das gestehe ich - ein Anhänger wissenschaftlicher Arbeitsweisen, auch wenn hier oft falsche Wege eingeschlagen werden, die später korrigiert werden müssen, auch wenn hier oft Umwege gegangen werden. Man ist wenigstens in der Lage, sich zu korrigieren. Ich bin ein Anhänger der Wissenschaft, weil ohne ihre Errungenschaften wäre ich schon tot: In der Jetztzeit, allein, weil ich vor Kurzem erst eine Sepsis überstanden habe, dank Antibiotika, dank Operation, in der Geschichte, weil die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer in Österreich betrug zum Beispiel um das Jahr 1900 gerade einmal 40,63 Jahre. Und die habe ich schon ganz wesentlich überschritten, dank medizinwissenschaftlicher Forschung. Ich fahre Auto, Motorrad (Ingenieurswissenschaften Maschinenbau), habe elektrisches Licht, Fernsehen (Elektrotechnik, Elektronik), und so könnte man die Erzählungen über unser jetziges Leben weit fortspinnen. Auch wenn in diesem Österreich die Wissenschaftsskepsis enorm hoch ist.

  • Doch zurück zum Zufall: Ein einfaches Wort für vielerlei Phänomene, zumindest wenn man sie näher betrachtet (ich meine, wie es mir so scheint): Da gibt es ja den Zufall, mit dem ein Würfel beim Liegenbleiben eine Zahl auf der Kopfseite zeigt, eine von Eins bis Sechs. Diese Art von Zufall erscheint mir ja recht bieder zu sein, weil sowohl das Ereignis - der Wurf des Würfels - sowie die geringe Anzahl der möglichen Ergebnisse festgelegt sind. Man kann auch mathematisch durchaus gut mit dieser Art von Zufall umgehen. Trotzdem arbeiten sich viele Menschen schon an diesen einfachen Ereignismöglichkeiten ordentlich ab, indem sie nicht einsehen wollen, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der eine gewisse Zahl kommt, bei jedem Wurf aufs Neue ein Sechstel beträgt (vorausgesetzt, der Würfel ist in Ordnung). Dieser Blick in die Zukunft steht natürlich im Widerspruch zu einem Blick in die Vergangenheit, mit dem man eine Vielzahl vorhergegangener Würfe bewerten. Natürlich müssten da alle Zahlen etwa gleich oft gekommen sein. Dauernde Abweichungen könnten darauf hinweisen, dass vielleicht mit dem Würfel etwas nicht in Ordnung ist.

  • Aber vorausgesetzt, dass alles und der Würfel seine Richtigkeit hat: Warum unterscheiden sich die Sicht in die Zukunft und der Blick auf die Vergangenheit so drastisch? Betrachtet man da unterschiedliche Welten? Manche können sich so sehr in ihre Gedanken hierüber verirren, dass sie dem Spiel anheimfallen, in einer nicht stoffgebundenen, grauenhaften Suchterkrankung.

  • Eine andere, zufälligere Art von Zufall liegt wohl dann vor, wenn sich zwei oder mehr unabhängige Ereignisketten an einem Schnittpunkt treffen: Karl wirf seinem Hund einen Ball. Dieser streift einen dürren Ast, der absplittert. Ein Splitter fällt Karin ins Auge und beschädigt die Netzhaut. Solche »Zufallsergebnisse« sind weitaus schwerer vorherzusehen, so sie es denn sind. Wenn ich Wahrscheinlichkeitsrechnungen beginnen lasse, wenn alle Protagonisten schon im Park spazieren gehen, komme ich vielleicht sogar noch zu einem (Hoffnungs-)Ergebnis. Wenn ich aber bereits beim Weckerläuten am Morgen ansetze, am Vortag, bei der Geburt Karins. Aber das, was ich hier als »Ergebnis« bezeichnet habe, der Zufall: Ist er denn wirklich ein Ergebnis und nicht nur selber wieder ein kleines Einzelereignis in einer Kette von Beziehungsereignissen?

  • Und dann gibt es noch so etwas wie einen Strukturzufall, eine Entwicklung in eine Nische hinein, der in Positivformulierung in unserer Weltsicht nicht vorkommt. Die Negation kennen wir sehr gut: »Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen!« Technisch will man dieser Art von Zufällen über Daten vergangener Ereignisse, mit sogenannten Versagenswahrscheinlichkeiten zu Leibe rücken, aber seit Tschernobyl und Fukushima wissen wir, dass wir die Fantasiebilder zu möglichen Schadensursachen nicht begrenzen dürften. Weil wir uns die hieraus erwachsenden unbegrenzten Kosten aber nicht leisten können und wollen, wird es auch immer wieder ein Versagen geben.

  • Versagen, das Spiel verlieren, das ist - ich betone das ausdrücklich - die Negativsicht. Bis dorthin geht ja auch alles gut, nicht allein durch absichtliche, geplante Leistungen, sondern ganz wesentlich auch durch Zufälle. Dass Sie noch leben, ist ein ganz wesentlicher solcher Zufall, positiv für Sie und für Ihre Lieben. Dass sie dieses Buch lesen, gekauft haben, ist ein solcher Zufall, positiv auch für mich. Zufälle verursachen also auch Lebendigkeit, sind Leben. Das ist so, darüber denken wir nicht nach, obwohl es auch Grund dafür sein könnte, demütig und dankbar zu sein. Worüber wir aber schon, sogar intensiv, nachdenken, ist, und nicht dem trostlosen Zufall auszuliefern.

    Wir arbeiten daran, wir rechnen damit herum, wir glauben, ihn beherrschen zu können, wir setzen alles daran, dass sich unerwartete Ereignislinien nicht begegnen können, dass nicht unerwartet ein unerwartetes Neues entsteht, das uns unseres Ranges beraubt, also der Stellung in sozialer Sicherheit, auf der wir uns wähnen. Zu diesem Zweck versteinern wir die Zeit. Zu diesem Zweck bereiten wir einen Plan B vor, eine Versicherung, die jeglichen Schaden zurückdreht, einen Neustart ermöglich. Wir versuchen, für alles Missliche eine Ursache, möglichst einen Schuldigen zu finden, um uns in Sicherheit wähnen zu können: »Hätte Jeder zur richtigen Zeit das Richtige getan, so lebten wir alle noch immer glücklich und zufrieden!«

  • Offenbar wollen wir den Zufall nicht so recht dulden, hinausdrängen, hinausrechnen, hinausplanen aus unserer Welt. Gelänge es, es wäre schrecklich, eine Versteinerung der Zeit.

    Wozu also hadern mit dem bisschen Pech, das wir in unserem Leben bislang gehabt haben, verglichen mit dem vielen Glück dazwischen? Wozu also hoffen auf endloses Glück. Das Unglück, das, was man sich als solches definiert hat, kommt unausweichlich.

    Aber wir glauben und hoffen halt, alle, immer. Wir glauben an unsere Lebensziele, wir glauben an unsere Glaubenssätze, wir verwischen unsere Grenzen zwischen Glauben und Hoffen, und wenn man uns ließe: Vielleicht würden wir den Zeitenlauf wirklich anzuhalten versuchen. Wir strengen uns an, wir geben viel Geld aus für unsere Pläne, gegen den Zufall. Wir sind verbittert über das, was uns wahrscheinlich passiert, wegen hoher Eintrittswahrscheinlichkeit bereits passiert ist, jedenfalls noch passieren wird. Wir wollen - als Gegensatz zum Zufall - einen Sinn sehen, und wenn wir ihn nicht sehen, dann wollen wir ihn finden. Neuerdings gibt es Leute, die machen Sinn, im Sinn von Produzieren, oder ordnen gewissen Ereignissen zu, dass diese Sinn machten. Es ist, wenn man so will, hochdramatisch.

  • Wollen wir uns solche Menschenleben ansehen?

    Hereinspaziert! Kommen Sie mit!

Wenn man das Verhalten von Menschen begreifen möchte, dann muss man wohl ihre Ziele kennen, was sie antreibt. Das ist oft nicht leicht herauszufinden, es ändert sich auch im Lauf des Lebens. In der Kindheit sind es ja oft nur Umweltreaktionen, momentane Wünsche, Selbstsuche und Selbstfindung. Aber spätestens ab dem frühen Erwachsenenalter gibt es wahrscheinlich Lebenspläne, und mögen sie noch so vage sein. Selbstverständlich hängt natürlich auch viel von der momentanen Situation ab. Wenn man hungert, Alles klar. Und schon Berthold Brecht hat darauf hingewiesen: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral«. Natürlich möchte man sich nicht jeden Tag der Zukunft Sorgen um das leibliche Wohl machen müssen. Dann kommt irgendwann das Bedürfnis nach sozialer Bindung, nach Freunden, nach Partnern Diese Beziehungen funktionieren aber erfahrungsgemäß nur dann friktionslos, wenn eben die körperlichen Grundbedürfnisse fraglos befriedigt werden können.

Und wenn das alles läuft, dann hat man Platz für ästhetische Bedürfnisse. Geschmäcker sind verschieden, und manche sind sich ihres Geschmackes so unsicher, dass sie sich gern auf Rat von außen verlassen: Influencer und Werbung machen das augenscheinlich und bekennen sich dazu. Letztendlich werden uns rundherum und 24/7 Lebens-Sollzustände vorgeführt, sodass letztendlich viele Menschen sich in diese Moden einfügen, in die ihnen gefälligen Moden. Nur ganz Wenige kümmern sich nicht um diese Vorgaben, und so können mit Ästhetik gute Geschäfte gemacht werden. Vom Küchen- über das Autodesign, wo man Ihnen zusätzlich erzählt, welchen Nutzen die jeweiligen Gimmicks für Sie haben. Fliegen können aber auch die Autos mit den tollsten Linienführungen nicht, und die Chromblenden von Auspuffendrohren haben funktionell wohl keinerlei Effekt.

Das wissen sie aber alles nur, wenn Sie sich um Wissen kümmern. Das machen doch auch einige Menschen. Aber was gefunden wird ist unterschiedlich. Manche können sich nach kurzer Recherche im Internet schon ein neues Weltbild machen, was hier aber nicht abgehandelt werden soll. Manche nehmen da mühsamere Wege auf sich, und das sind oft die die sehr genau wissen, wo ihr Wissen seine Grenzen hat.

Die Grenzen dieser immanenten Welt tauchen dann auch irgendwann auf, spätestens im Wissen über den eigenen Tod, oft schon im Zusammenhang mit Fragen nach dem Sinn. Manchen reicht es ja, Geld zu verdienen. Mache suchen nach einem Grund und einem Ziel, warum sie auf der Welt sind. Diese Entwicklung zum Transzendenten hin machen doch viele Menschen durch, eben angesichts der Vergänglichkeit ihres eigenen Ichs.

Insgesamt ist es aber so, dass einige flexibler sind, verschiedene Gesichtspunkte einnehmen können. Andere beharren in ihren Weltanschauungen und Wertesystemen. Pavel beispielsweise war sehr materialistisch ausgerichtet. Besitz ist gleich Kraft ist gleich Macht. Diese Maßstäbe bestimmten seine Entscheidungen und waren - in seiner Welt - quasi Selbstläufer. Wenn er Kraft hatte, konnte er sich leicht Besitz aneignen, gewann dadurch Kraft und Macht, um sich wiederum Besitz anzueignen, wodurch er wiederum mächtiger und Kräftiger zu werden glaubte. Warum er diesen Maßstäben folgte, das wusste er nicht, das fragte er aber auch nicht. Möglicherweise spielte es eine Rolle, dass er in seiner Kindheit und frühen Jugend Mangel und Entbehrungen kennengelernt hatte. Aber spätestens, als er in dem Milieu angelangt war, in dem Gewalt und Skrupellosigkeit unmittelbar mit dem, was man auch »Karriere« nennen kann, verknüpft war, wurde dieses Wertesystem einzementiert.

Peter hatte sich von einem eher schüchternen, von seinem Gewissen streng beobachteten Kind, anfangs auch zu vergleichbaren Maßstäben hin entwickelt. Um seinen Besitz und damit die Macht, ein »freies Leben« zu führen, zu erreichen, bediente er sich bei Mitteln und Methoden, die im Vergleich zu Pavels Vorgangsweisen gerade noch legal waren, zumindest anfangs gerade noch legal waren. In späteren Zeiten, als er zum Getriebenen seines Systems wurde, ein Loch aufriss, um mit dem Aushubmaterial ein anderes zu stopfen, da rutschte auch er aus der Legalität heraus. Moralisch war er aber nie gewesen, anfangs vielleicht noch voller Kraft, gegen Ende seines erfolgreichen Geschäftslebens eher ein getriebenes Tier.

Das könnte man jetzt eher negativ sehen, und physisch, oft auch psychisch, ging es dem Peter dabei sicher nicht gut. Er war gezwungen, sich umzuorientieren, sein Leben neu zu betrachten, auf neue Grundlagen zu stellen, auf neue Weise zu führen. Das war seltsamerweise aber nicht so wie bei dem Fuchs, dem die süßen Trauben, wie für Peter sein ehemaliges Leben, zu hoch hingen, und der sich deswegen damit zufriedengab, davon zu trotten und auf bessere Gelegenheiten zu warten und die unerreichbaren Trauben eher als sauer zu bezeichnen. So etwas unterstellen die Leute ja schnell einmal und gern. Aber bei Peter war es anders, fast wie eine Befreiung, fast, wie wenn er endlich auf die richtigen Geleise geraten wäre. Er wurde quasi in ein neues Leben hineingeboren. Es war aber auch nicht so, dass er dieses neue Leben nur notgedrungen zu führen begann, sondern er war irgendwie sogar in seinem alten, ursprünglichen, kindlichen Leben angekommen, das voller Zauberkraft und hoher moralischer Leitlinien gewesen war. Peter hatte dieses alte Kinderleben wiedergefunden, aufgearbeitet, mit dem besten, dem er in seinem Geschäftsleben begegnet war, zusammen getan, und hatte daraus sein neues Leben gezimmert. Ganz stimmt das jetzt nicht: Er hatte von außen Hilfe erhalten, neue Bekanntschaften geschlossen, von neuen Gesichtspunkte zu sehen gelernt. Er hatte Melanie kennen gelernt.

Wissen Sie, was ein Katalysator ist? Ein Ding, ein Stoff, eine Struktur, die Reaktion von anderen Dingen, Stoffen oder Strukturen miteinander ermöglicht oder beschleunigt, ohne sich selber dabei zu verändern. Ursprünglich kommt der Begriff aus der Chemie. Katalysatoren werden dort seit der Antike verwendet, und auch sie verwenden regelmäßig einen Katalysator, zumindest wenn Sie Besitzer eines benzinbetriebenen Kraftfahrzeugs sind, in dem der »Katalysator« - hier die Bezeichung für ein Ding in der Auspuffanlage - für die Oxidation und Reduktion der Motorabgase, hauptsächlich von Kohlenwasserstoffen, Stickoxiden und Kohlenmonoxid sorgt. Es entstehen Wasserdampf, reiner Stickstoff und Kohlendioxid. Das ist zwar auch schädlich für die Umwelt und den Menschen, aber bedeutend harmloser als das Todesgift Kohlenmonoxid. Der Autokatalysator ist kein Filter, und er verbraucht sich auch nicht durch seine Funktion. Das heißt aber nicht, dass er nicht auch altern würde im Lauf der Zeit, durch das ständige Rütteln der Motorvibrationen, des Fahrwerks. Und er kann ganz schnell zerstört werden, wenn man ihm auf chemischen Wege zusetzt, zum Beispiel verbleites Benzin tankt.

Melanie war eine Art Katalysator, für Pavel, für Peter, wir wissen nicht, für wen noch. Sie veränderte das Leben der beiden Männer, ohne sich deswegen selber zu verändern. Bis zu einem gewissen Ausmaß ist es nichts Besonderes, wenn man durch Kontakt mit einem Menschen verändert wird. Und natürlich wird man durch beeindruckende Persönlichkeiten rascher zu neuen Denkweisen gebracht als durch echte Langeweiler. Aber bei Melanie war es doch etwas Besonderes, weil ja doch nichts an ihr für Außenstehende begeisternd gewirkt hätte. Eher war sie das, was man als »Absturzkandidatin« charakterisiert hätte. Eine gewisse Tatenlosigkeit, Gedämpftheit, waren bereits nach kurzem Kontakt zu erkennen, und die meisten Menschen diagnostizierten auch rasch die zu Grunde liegende Störung, eine Suchterkrankung, wobei hier die Einschätzungen durchaus differierten. Für eine reine Alkoholikerin hielt wohl niemand die Frau; ihr fehlten die Ausdünstungen, die lalligen Bewegungen Artikulationsweisen, sie war eher langsam, als müsste sie sich durch Rührteig kämpfen.

Ihre beiden Geliebten störte das weniger. Nicht, dass sie es nicht bemerkt oder gar toll gefunden hätten, wie Melanie durchs Leben strauchelte. Das störte sie beide, den einen, weil er sich Sorgen über eine mögliche gemeinsame Zukunft machte, den anderen, weil er es für eine Beschädigung an seinem Eigentum hielt, wie einen Kratzer im Lack seines Wagens. Aber sie nahmen es beide hin, mussten es auch hinnehmen, weil Melanie resistent gegen irgendwelche Veränderungsversuche war. Für Peter war es eine ganz eigenartige Zuneigung, ein Begehren, das ihn band. Er fühlte sich verstanden, wusste das auch, wunderte sich auch darüber, aber irgendwie konnte Melanie sein Innerstes berühren. Pavel, der sah in Melanie einen letzten, festen Kern dessen, was er als Familie, bezeichnete. Er wusste nicht, was er sich darunter vorstellen sollte, aber was er wollte, das wusste er: Diese familiäre Ordnung, eigentlich nur eine Vorstellung davon, weil leben konnte er sie mit oder auch ohne Melanie nicht. Vor allem aber wollte er, dass dieser letzte Rest von Sicherheit und Ordnung felsenfest sein sollte. Vielleicht war es ja Melanies Unflexibilität, die ihn dahingehend beeindruckte.

So waren sie, diese Drei. So standen die zwei Männer zu Melanie, die Ihnen irgendwie aus einer anderen Welt, vielleicht sogar von einem anderen Planeten zu kommen schien, so viel Macht übte sie aus. Zueinander hatten die Buhler keinerlei Verbindung, voneinander wussten und wollten sie nichts. Und sie wollten auch nichts voneinander wissen.

Auch eine Kindheit

Wir neigen dazu, anzunehmen, dass die Menschen, denen wir begegnen, die gleichen Beweggründe haben wie wir selber. Die Lebensziele mögen ja verschieden sein, aber auch nur mit Maßen: Der eine liebt Autos, die Nächste geht gerne Tanzen, der Dritte versinkt im Fußball ...

Wenn jemand gar nicht mehr mitspielen will in den etablierten Lebenswelten, dann ist er zuerst einmal verdächtig. Sofern das Abweichungs-Durchhaltevermögen ausreicht, damit irgendwie berühmt zu werden, gibt es wieder Akzeptanz: Man ist dann »schrullig«, zumindest.

Tatsächlich unterscheiden sich die Menschen aber ganz beträchtlich. Die Unterschiede werden aber selten zum Gesprächsthema gemacht. Der Smalltalk bleibt flach und an der Oberfläche.

Melanie war eine so ganz andere. Der Smalltalk lag ihr auch nicht besonders.

Melanie Gschwendter war am 18.2.1967 unter dem Sternzeichen Wassermann in Österreich, im nordöstlichen Mühlviertel geboren worden. Gschwendtner hieß sie, weil ihre Mutter so hieß, einen Vater gab es zu ihrer Geburt nicht, und sie hatte auch später nie einen solchen kennengelernt. Das Leben war entbehrungsreicher als heute, insbesondere im damaligen Mühlviertel, und so lebte ihre Mutter mit der kleinen Melanie bei ihren Eltern, den Großeltern Melanies, in einem alleinstehenden Bauernhof in der Nähe von St. Thomas am Blasenstein.

Dieses St. Thomas war - aufgrund seiner Lage mit weiter Sicht in das Land, aufgrund des Umstandes, dass dort einige gewaltige Granitblöcke offen in der Landschaft liegen - wahrscheinlich schon in Vorzeiten Kultstätte. Nun sitzt dort, neben den alten Opferstätten, eine Kirche, die als Besonderheit einen mumifizierten Leichnam ausstellt, den »luftgeselchten Pfarrer«, den man gegen Einwurf von Münzen in einen Automaten gern besichtigen kann. Dann kann man im Dorfgasthaus dinieren und sich vorher - wenn erforderlich - durch Hindurchklettern durch einen verdrehten Spalt in einem Granitblock, der sogenannten »Kreuzwehlucke«, eben von Schmerzen im Zusammenhang mit der Wirbelsäule befreien, so geht die Mähr. Durchpassen muss man natürlich auch durch den Spalt, was vom Körperumfang abhängt, weswegen man das Experiment günstigerweise vor dem Wirtshausbesuch unternehmen sollte.

Das Leben war karg auf den Kleinbauernhof von Melanies Großeltern: Das Wasser musste vom Brunnen geholt werden, die Toilette war mehr oder weniger im Stall, ein Plumpsklo, das ebenso auf den Misthaufen entwässerte wie der Stall. Das Essen reichte gerade über das Verhungern hinaus, weil reich waren sie alle nicht am Hof: Die ledige Mutter half in St. Thomas in der Schule, in der Kirche und im Dorfgasthof aus und bekam dafür allenfalls ein paar Schilling (die damalige Währung in Österreich, teilbar in 100 Groschen). Die Essensreste, Mehl, Zucker und Schmalz, die sie nach Hause brachte, waren zum Überleben notwendiger als das wenige Geld, das man vor Ort ja auch kaum ausgeben konnte.

Glücklich war sie nicht, Melanies Mutter, und sie sprach auch kaum, und wenn, dann brabbelte sie unverständlich vor sich hin. Verstehen konnte man sie allenfalls durch die unterschiedlichen Grade von Erregung in ihrem Gestammel, eben im Zusammenhang mit dem jeweiligen Anlass. Sie war zum Beispiel einer der Menschen, von denen Beweggründe und Lebensprämissen schwer nachzuvollziehen gewesen wären. Sie starb im Jahr 1985, als Melanie gerade 18 Jahre alt geworden war.

Eine leichte Jugend hatte sie nicht gehabt, die Melanie: Ihre mehr oder weniger unerreichbare Mutter auf der einen Seite, die sie nicht und nie vor ihren griesgrämig-bösartigen Großeltern auf der anderen Seite beschützen konnte, wahrscheinlich auch gar nicht wollte, wahrscheinlich gar nicht wusste, dass es hier ein Schutzbedürfnis gab, zumindest am Anfang.

Der Großvater, Kleinbauer, arbeitete nebenbei auch bei der Straßenmeisterei, wo er im Sommer mit Instandsetzungsarbeiten, das restliche Jahr über mit Schneeräumung, Splitstreuen, mit dem Aufstellen von Schneegittern und Begrenzungspfählen beschäftigt war, tageweise und je nach Anfall. Die Winter waren kalt in Melanies Kindheit, die Gegend liegt hoch, so um die 700 Meter über den Meeresspiegel herum.

Melanies Großvater hielt sich für schlau und hatte mit allerlei Spekulationen und Tricks reich zu werden versucht. Wahrscheinlich gab es viele Schlauere, weil er letztendlich das meiste seiner sowieso schon kleinen Landwirtschaft verloren hatte, zum Teil an echte Betrüger, die man schon damals strafrechtlich belangen hätte können, sofern man ihrer habhaft werden hätte können, zum Teil an etablierte, rechtmäßige Halbseidene, die ihn zu wilden Spekulationsgeschäfte überreden und so ausnehmen konnten. Und so war Melanies Großvater, der Schlaue, griesgrämig geworden, aufbrausend, ein Getriebener seiner Verfolgungswahnvorstellungen, selbst uneinsichtig und gnadenlos gegen alle vermeintlich schwächeren: Gegen seine Frau, an die sich Melanie nie anders erinnern konnte als an eine aus den Schatten des Hauses kurzzeitig herausfließende krächzende Hexengestalt, gegen Melanies Mutter, die unsägliche Angst vor ihrem Vater zu haben schien und sich stets wortlos, zitternd, mit nassen Augen unterwarf, gegen Melanie, aber das war eine andere Sache, eine wichtige Sache.

Solang Melanie ein Baby war, wurde sie vom Großvater mehr oder weniger ignoriert. Vielleicht beschwerte er sich ja über das Kind, vielleicht machte er Vorhaltungen, beschimpfte Melanie, aber er wandte sich nie direkt an sie, sodass das Kleinkind zwar das Poltern bemerkte, die schlechte Stimmung. Melanie bemerkte auch, dass ihre weinende Mutter sie hinaustrug, auf den Dachboden, wo sie im Winter eine kleine kalte Kammer bewohnten, im Sommer zum Waldrand in ein Moosbett. Aber mehr war da nicht, nicht erinnerlich: Kein Drücken, kein Herzen, kein Trost.

Als Melanie dann älter wurde, kam sie auch kaum unter andere Kinder. Der Weg zum Kindergarten wäre zu beschwerlich gewesen, hätte die Mutter an ihrer Arbeit gehindert, teilte man ihr mit, und dass man sich das Kindergartengeld nicht leisten könne.

Eines Sommervormittags, so erinnerte sich Melanie, als die Fruchtfliegen in den Lichtstreifen, die durch die Fensterläden hereinfielen, zu tanzen begannen, eines feuchtheißen Vormittags im Sommer, hatte sie ihr Großvater, der in der Stube herumwerkte, seltsam angesehen. Er hatte sie befehlend zu sich gerufen, ihr die Hand auf den Kopf gelegt, auf die mittelblonden, zu Zöpfen geflochtenen Haare, auf die Schulter. Dann hatte er ihren Hals umfasst, mit seiner rechten, riesenhaften, schwieligen, rissigen, stinkenden Hand, die Hand fest geschlossen. Als Zuseher hätte man meinen können, er hätte angesetzt, Melanie zu erwürgen. Diese Angst hatte das Mädchen nicht, weil sie noch nicht wusste, wie dieses Erwürgen aussehen könnte, wie anfühlen, welche Konsequenzen es hätte. Aber wohl fühlte sich Melannie nicht. Dann ließ der Alte von ihrem Hals ab, rutschte mit der Hand hinunter, in Höhe des Bauchnabels, und schob ihr die alte ausgewaschene Flanellbluse hoch, begrabschte sie mit seinen heißen, hartrissigen Händen am Bauch, am Rücken, zog ihr die rote Strumpfhose, die sie trug, über das Gesäß herunter, und bemusterte sie von vorn und hinten ausgiebig mit Augen und Händen. Melanie hielt erschrocken den Atem an, damals. Großvater sagte: »Ich muss nachsehen, ob Du gesund bist.« So oder so ähnlich sagte er, und er sagte auch, dass alles in Ordnung sei, dass er sehr zufrieden sei, dass sie sich nicht aufzuregen bräuchte, dass es niemand wissen müsse.

Melanies Großvater war also - auch er ist schon lange verstorben - ein »Kinderschänder«, was gemeinhin als eines der größten Verbrechen gilt, gleichzeitig aber auch tabuisiert ist. Man will da gar keine Einzelheiten wissen.

In Melanies Leben gab es aber Einzelheiten, die hier aber auch nicht en detail dargelegt werden sollen. Nach dieser »Erstbegegnung« machte sie sich schon wilde Gedanken, aber angesichts der ansonsten vorherrschenden wütenden Grimmigkeit des Großvaters war diese Begegnung ja bei Weitem nicht so gewalttätig-furchteinflößend gewesen wie im sonstigen Alltag. Letztendlich, so legte sie, das Kind, es sich zurecht, war ja nichts Arges passiert. Letztendlich war ja eine ganz neue Art Bindung zum Großvater entstanden, eine Bindung, von der nur sie beide etwas wussten, die sie intim verband. Irgendwie sollte sie ja auch Rechte ableiten können aus dieser Geheimverbindung. Sie schob das aber immer auf ein unbestimmtes Später auf, sie wusste letztendlich nicht, was da passierte.

Des Großvaters Annäherungen setzten sich fort, aber wir wissen nicht, in welchem Ausmaß. Melanie verhielt sich ruhig, sie sah sich von außen zu, sah hinein in eine unwirkliche, zähflüssige Welt ohne Hitzen und Spitzen. Natürlich wurde das Kind schwer traumatisiert, auch wenn man beim genauen Hinschauen durchaus noch Details auseinander klauben, begreifen kann. Wahrscheinlich entwickelte Melanie dissoziative Störungen, bei denen einzelne Bestandteile der Persönlichkeit, der Wahrnehmungen und Reaktionen quasi auseinanderfallen, nicht mehr zusammenpassen, bei der/dem Betroffenen auch den Eindruck erwecken können, man hätte sich aus seinem Körper gelöst und sähe sich von außen zu. Das mag beim Zahnarzt ganz nützlich sein, insbesondere bei Wurzelbehandlungen, aber die Menschen, die das können, machen es bewusst und situationsbezogen. Melanie sollte ihr ganzes Leben nie wieder, allenfalls in einzelnen Augenblicken, in sich zurückfinden. Niemand erkannte ihr Problem, niemand konnte ihr passend - oder sogar fachkundig - helfen. Das ist ein schreckliches Schicksal.

Eines Tages, Sie mochte so um die zehn Jahre alt gewesen sein, gab es einen riesigen Streit. Großvater und die Frauen schrien sich an, gingen körperlich aufeinander los. Da musste Großmutter weggegangen sein, den Melanie sah nie wieder ihren Schatten aus dem Dunkel des Hauses herausfließen. Wie sich im Verlauf der kommenden Zeit herausstellte, wusste auch sonst niemand, wohin Großmutter gegangen war. Großvater wurde immer einsilbiger, Melanies Mutter zog ins Erdgeschoß, und die Dachkammer blieb Melanie alleine. Ihre Mutter nannte sie fortan - mit einem kecken, herausfordernden Unterton - »Melanze«, und ihr Großvater berührte sie nimmer.

Zu dieser Zeit hatte sich Melanie schon angewöhnt, vom Bier, auch vom Wein, sogar vom Schnaps zu kosten, wenig, aber sie genoss das heitere Hochgefühl, das sich nach ein paar Schlucken einstellte.

Sie zog auch ihre Runden, erfuhr, dass sie zur Schule hätte gehen sollen, und ging fortan auch ab und an zum Unterricht. Sie wurde gehänselt, weil sie leicht schielte, und das schmerzte sie. Es gab irgendwelche Diskussionen mit einer »Fürsorge«, aber letztendlich ging dies alles an ihr vorbei, berührte sie nicht, weil sie war nicht greifbar für die ordnungsbedachten Instrumente dieser »Fürsorge«. Aber schlau war sie, und so lernte sie schnell, was wichtig war zum Leben.

Melanie zog ihre Runden, und sie traf sich auch mit anderen Jugendlichen, vorzugsweise mit etwas älteren, und sie war stolz, von ihnen akzeptiert zu werden. Man bemerkte sie, scherzte mit ihr, spielte mit ihr, verlangte Mutproben, um dazugehören zu dürfen, gab ihr Alkohol, so viel, dass sie mehrfach im Rausch das Bewusstsein verlor.

Um ihr zwölftes Lebensjahr herum dürfte sie in einem solchen Rausch vergewaltigt worden sein. Sie wusste über alles Bescheid: Über Sex, über das Kinderkriegen, über Vergewaltigungen, und deswegen wunderte sie sich, dass sie körperlich ziemlich unversehrt geblieben war. Der größte Schmerz beim Aufwachen kam vom Kater, der Rest war weitgehend unnötiger stinkender Schleim, vermischt mit Blut, zerrissene verdreckte Wäsche. Es war genau so wenig dramatisch wie Großvaters Grabschereien, befand sie, und brachte sich wieder in Ordnung. Keine Vorwürfe, keine Anzeigen.

Wissen wollte sie aber schon, wer sie vergewaltigt hatte. Sie erinnerte sich an die eigenartige Verbundenheit mit dem Großvater. Letztendlich fand sie es auch heraus: Es waren mehrere Burschen gewesen. Einen Einzelnen konnte sie also nicht an sich binden.

Es war noch viel ärger: Fortan galt sie in der Gegend als Hure, und aller möglichen Männer machten sich an sie heran, vergewaltigten sie, missbrauchten sie, demütigten sie und zerstörten ihren Ruf, weil »geile Huren« das ja so wollen.

Ist das Alles wirklich?

Menschen und Masken waren schon oft auch ein literarisches Sujet, weil man gut damit spielen und Spannung aufbauen kann.

Menschen, die Masken tragen, sind eine allgegenwärtige Erscheinung: Wer zeigt sich in der Öffentlichkeit, im Berufsleben schon so, wie er sich in seinem Innersten fühlt? Wer zeigt sich überhaupt so? Üblicherweise schirmt man sich ab, verbirgt sich, maskiert sich. Viele aber präsentieren und maskieren sich auch gern als diejenigen, die sie gerne wären, nicht als die, für die sie sich aktuell halten. Da ist - trotz allem Wunsch nach Contenance - auf beiden Seiten viel Platz für große Fehleinschätzungen und Irrtümer!

In der narrischen Zeit des Jahres, dem Fasching, neuerdings aber auch bei Anime- und Manga-Conventions, maskiert man sich aber mit freiem Willen und Freude schrankenlos. Wahrscheinlich sind dann etliche mehr bei sich als im öffentlichen Alltag. Auch schön!

Nach seinem beruflichen Scheitern, seinem persönlichen Ab- und Ausstieg hatte Peter zunehmend doch eines gefunden: Sich selber, die Liebe zu sich selbst, zu seinem wirklichen Selbst, zum unmaskierten Selbst.

Das ist jetzt nicht, wie wenn man einen Schalter umlegt und die Welt plötzlich in einer neuen, spirituellen Qualität erstrahlen würde. Es ist eher so, dass man sich in vielen Situationen plötzlich fragt, warum man das früher so anders, so kompliziert, so verkrampft angegangen ist. Das ist so, dass man sich am Abend in den Sonnenuntergang setzt, nichts zur Ablenkung oder zum Absacken braucht, das man einfach zufrieden auf den vergangenen Tag zurück und in die kommende Nacht vorausschaut. Das ist so, dass man bemerkt, was andere Menschen antreibt, und dass man unglaublich nachsichtig wird. Man akzeptiert sie alle, auch wenn man klar weiß, mit wem man nicht, mit wem man schon Umgang haben möchte.

In so ein Bewusstsein war Peter hinübergewachsen, aber vielleicht hatte er sich auch nur eine Umgebung gesucht, in der er bequem so leben konnte. Es wird wohl von beiden ein Teil gewesen sein. Unbestreitbar aber ist, dass er gelernt hatte, wer er war, was er zu leisten im Stand war, was er machen wollte.

Es war Mitte Juli 2015. Es war ein Landsommertag: Die abgeernteten Weizenfelder leuchteten hellgelb, der Mais, hier heißt er auch Kukuruz, stand halbhoch erst, und auf den Landstraßen lagen Patzen der Erde, die die Traktoren aus den Feldern mitgerissen hatten. Der Himmel war klar und leuchtendblau und riesengroß. An allen Rändern schwammen Wolkentürme, unten flach, nach oben wild barock gewölbt, noch keine gelbgrauen Gewittertürme aber. In der Luft lag das hierher gehörige Aroma von Sonne, von gedroschenem Stroh, es roch gut und fein. Man flog durch diesen Duft, die trockene Hitze, ahnte, wie heiß Metall, Steine und Asphalt jetzt waren, hütete sich vor Berührung, vor Bewegung, vor allem Heftigen, und wachte aus dieser Drögheit erst nach Minuten im Schatten auf.

Peter fuhr oft im Schatten. Er fuhr von der Donau herauf nach Bad Kreuzen. Dort, so war er sich zunehmend sicher geworden, könnte Melanies, sein Sohn vielleicht bei einer Pflegefamilie oder in einer Art Heim untergebracht sein. Er wusste nicht, worauf er sich da berief. Die Hinweise im Keller waren eigentlich keine Hinweise, nur Bruchstücke. Ein mittelbarer Fingerzeig aus einem Zeitungsbericht vom 1. Mai 2010 über die sozialen Aktivitäten von Kirche und Gemeinde in Bad Kreuzen, anlässlich einer Maifeier. Im Bericht fand sich nichts über Melanie oder das Kind, aber auf einem zugehörigen Foto war im Hintergrund deutlich Melanie zu erkennen, die ein Kleinkind an der Hand führte. Der Kleidung und dem Haarschnitt nach war es wohl ein Junge. Er erinnerte sich an sein Erschrecken bei der Entdeckung, dass er wahrscheinlich ein Kind gezeugt hatte, von dem er bis vor Kurzem nichts gewusst hatte. Ein wenig war er stolz auf sich, das akzeptiert zu haben, für das Kind verantwortlich sein zu wollen. Er war aufgeregt.

Die Fahrt führte von Grein aus durch ein enges Tal, in dem die Straße kurvig durch lange Schattenstrecken führte und nur selten sich ein kleiner Sonnenkessel mit Wiese auftat. Er kam an einem Parkplatz vorbei, groß beschildert »Wolfsschlucht«. Einige Autos waren dort abgestellt, er selber war dort noch nie gewesen, nahm sich vor, dort wandern zu gehen, und sah sich schon mit seinem Sohn wild herumklettern. Lächeln. Noch ein paar Kurven, bis sich der Blick auf die Gemeinde auftat. Die Siedlung lag an einem Hang, die Höhenunterschiede zwischen den ersten Häusern und der Turmspitze der an oberster Stelle errichteten Kirche waren bemerkenswert.

Nachdem er nicht wusste, wo er zu suchen anfangen sollte, drehte er vorerst eine Runde durch den Ort, der jetzt, um die Mittagszeit herum, wie ausgestorben wirkte. Niedrige Drehzahl, leise Fahrt. Er würde warten müssen, bevor er irgendwelche Besuche abhielt. Es war fast wie in einer mexikanische Siesta hier in der Mittagshitze.

Bad Kreuzen, ein Kurort. Natürlich gab es eine dementsprechende Einrichtung. An einem Kaufhaus fuhr er langsam vorbei, sodass er sehen konnte, dass hier bis 15 Uhr geschlossen sein würde. Das freute ihn einerseits, andererseits wusste er nun, dass er vor 15 Uhr wohl keine Auskünfte einholen würde können. Ein Gasthof? Nein, zu persönlich, zu verfänglich.

Am Nachmittag war es wohl noch heißer als um die Mittagszeit. Im Geschäft erfuhr er die Lage des möglichen Kinderheimes. Ganz sicher war man sich dort auch nicht. Es hätte ja auch ein Altenheim sein können, oder das Haus, ein ehemaliger Bauernhof wenige hundert Meter vom Ortskern entfernt, war einmal ein solches gewesen. Jetzt gab es ja ein modernes, toll ausgestattetes Landesheim für Senioren.

Peter war nicht angemeldet im möglichen Kinderheim. Eine bissige hagere alte Dame befahl ihm, so kann man es gerne nennen, im Flur zu warten. Der Gang, in den auch eine Stiege aus dem ersten Obergeschoß mündete, war dunkel, nur erleuchtet durch ein halbrundes Fenster über der Eingangstür. Die Wände waren mehr als einen Meter hoch mit einer dunklen Holzlamperie verkleidet, die etliche Schrammen zeigte. Die Türen zu den Räumen des Hauses lagen allesamt tief in den dicken Mauern, die Laibungen waren ebenfalls mit dunklen Brettern verkleidet. Im Eingangsbereich hingen ein Kreuz, ein Weihwasserkessel. Ansonsten waren einige gerahmte Fotografien aufgehängt, darunter ein Gruppenbild mit etlichen alten Personen, zum Teil mit Krücken, zum Teil in Rollstühlen, und auch zwei Bilder mit Kindergruppen, im Halbrund aufgestellt, in Zweierreihen händchenhaltend, offenbar auf einem Spaziergang. Aber jetzt, im Augenblick, wirkte das Haus leer, trotz der Sommerhitze kühl, fast kalt, abweisend. Keine Spur von Kindern. Aber die Bilder, die gab es ...

Eine der Türen hinter der Treppe öffnete sich knarrend, unvermittelt. Über den Schleifbetonboden des Ganges näherte sich schlurfend die grimmige Alte mit einem Pfarrer in schwarzer Soutane, die vorne mit 33 schwarzen Stoffknöpfchen verschlossen war, um einen sich fassförmig gewaltig vorwölbenden Bauch zu halten. Peter fühlte sich augenblicklich in seine Kindheit versetzt, in der die beiden, dieses seltsame Paar, noch als fraglos ehrenwerte Dorfautoritäten durchgegangen wären. Der Priester war gute 60 Jahre alt, augenscheinlich mit einem zwar dicken, aber schlaff-teigigem Körperbau, mit unreiner, rosiger, angeschwitzter Haut und unstetem Blick. Die vermutete Konsistenz seines Körpers leitete Peter von der Beschaffenheit seiner Wangenbacken und seines gewaltigen Hängekinns, vor Ort besser als »Goder« bekannt, ab. Der suchende und ausweichende Blick machten den Pfarrer in Peters Augen unausstehlich, und so war er auch nicht überrascht, als ihn der Priester in nuschelnder und leiser autoritätsheischender Art ansprach. Wenn man einer solchen Ansprache folgen wollte, dann musste man sich einfach anstrengen, zuzuhören, zu verstehen, man musste ihm Konzentration und Aufmerksamkeit schenken, diesem sich als Gottesmann Maskierenden. Daneben schlackerte die dürre Alte, die einen feurigen Blick bekommen zu haben schien, mit dem sie den Gast offenbar zusätzlich zwingen wollte, zuzuhören, sich zu unterwerfen.

»Womit können wir Ihnen helfen, lieber Freund?« In dieser scheinbaren Frage lag - konträr zu den verwendeten Phrasen und zur süßlichen Artikulation - keinerlei Freundlichkeit oder spürbares Entgegenkommen. Als Peter erklärte, mühsam immer Details einflicken müssend, dass er ein Kind suche, wahrscheinlich einen Jungen, so um die 10 Jahre alt, Melanies Beschreibung als Mutter einfügend, winkte ihm der Pfarrer ab: »Wir wollen hier keine Kinder!« Damit war das Gespräch beendet., Peter wurde von der Frau aus dem Haus gewiesen, die hinter ihm sofort die Tür zuzog und hörbar zwei Mal absperrte. »Eine seltsame Begegnung, irgendwie außerirdisch!«, dachte er, als er sein Auto startete. Was sollte er wohl als Nächstes tun?

Feld und Kraft

Wir nehmen uns ernst, sehr ernst. Eigentlich hält sich jeder von uns für das Zentrum der Welt, seiner Welt, für die Welt schlechthin. Das hat Auswirkungen: Wenn wir gut gelaunt sind, ist die Welt schön und voller Wunder, wenn wir deprimiert sind, bemerken wir, dass alles seinem Untergang entgegen geht und auf dem Weg dorthin zerfällt und modert. Haben wir Angst, dann füllt die Welt sich mit Monstern und Ungeheuern, und manchmal gibt es für manche Menschen Augenblicke, da sind wir so stark, dass wir die Welt formen und kneten könnten wie nassen Ton.

Wenn wir diesen gefühlsmäßigen Zugang etwas zurückdrängen, dann können wir uns erinnern, gelernt zu haben, dass wir Bestandteile dieser Welt sind. Ein Gutteil der Menschheit glaubt sogar daran, dass es so etwas wie »Evolution« gibt, dass wir uns durch Evolution dorthin entwickelt haben, wo wir jetzt sind. Ein schon etwas kleinerer Teil der Menschheit leitet daraus ab, dass wir nicht etwa die »Krone der Schöpfung« sind, sondern allenfalls ein momentanes evolutionäres Zwischenstadium darstellen (falls wir überhaupt die Gelegenheit haben, uns weiterzuentwickeln, falls wir uns also nicht alle für uns notwendigen Lebensgrundlagen entziehen und zerstören). Ich gehe einmal davon aus, dass diese Menschengruppe auch erkennt, wie sehr wir in das Lebensgefüge auf der Erde eingebunden sind, dass alle lebendigen Wesen mehr oder weniger unsere Brüder und Schwestern sind.

Wenn man jetzt - und das tun auch viele, damit arbeiten ganze Industrien - etwas genauer hinschaut, dann erkennt man, dass wir aus biologischen Bestandteilen, chemischen Verbindungen, Atomen und ihren Bestandteilen aufgebaut sind. Und es scheint wie ein Wunder, dass sich Atome zu Molekülen verbinden, diese wiederum zu noch größeren Molekülen, aus denen schließlich die Grundbestandteile und Vorläufer unseres Lebens entstanden sind und noch immer entstehen. Wenn man da genauer hinschaut, bemerkt man Kräfte, die wir in unserem alltäglichen prähistorischen Leben nur durch Phänomene wie den Blitzschlag, die Schwerkraft, die Wärme bemerkt und göttlichem Einwirken zugeschrieben haben. Bis etwa 1800 hat es gedauert, bis wir einige dieser Phänomene näher erforscht und klassifiziert haben, bis wir mit ihnen umzugehen gelernt haben: durch wissenschaftliche Forschung.

Und diese wissenschaftliche Forschung dauert an. Etwa um 1920 kam es zur Entdeckung, dass Energie nur in gequantelten Paketen auftritt, also nicht kontinuierlich auf noch so kleinen Skalen, sondern nur in Form von diskreten Energiepaketen gehandhabt werden kann.

»Na und?«, könnten Sie sich jetzt fragen.

Es ist komisch, es ist anders als unsere Welt, und trotzdem ist es Grundlage unserer Welt, muss man dazu wissen. Quanten, das ist noch was Kleineres als Atome, verhalten sich nicht so wie alles andere in unserer Welt: Sie kennen keine vergehende Zeit, wie wir sie erleben, sondern nur eine Art Urtakt, wie ein Metronom. Unter bestimmten Bedingungen binden sich - aus unserer Sicht - Quantenpaare aneinander und tanzen dann nur mehr im Paarlauf, zeitgleich, auch wenn sie noch so weit räumlich voneinander entfernt sind. Wir können mit Quanten arbeiten und machen das auch. Sonst könnten Sie nicht vor dem Computer sitzen und diesen Text hier lesen, aber auch nicht Radio hören oder das Navigationssystem im Auto benutzen. Sie könnten auch nicht sehen oder riechen, denke ich unter Bezugnahme auf entsprechende Forschungsergebnisse. Und ich weiß nicht, ob unser Nervensystem und unsere Synapsen ohne Quanteneffekte funktionieren würden.

Was sind Quanten? Kleinere Teilchen als Atome?

Die bekanntesten Quanten sind wohl die Photonen, die Lichtteilchen. Aber eigentlich sind alle Teilchen mit Quanteneigenschaften Quanten, und ich höre auch laufend von Erfolgen, wie große Atomverbindungen mittlerweile als Quanten betrachtet und untersucht werden können. Vielleicht kann man ja auch den Autoverkehr als quantenmechanisches Phänomen betrachten, wenn man nur von weit weg, zum Beispiel vom Jupiter aus, auf den morgendlichen Stau in Linz herabschaut. Vielleicht sind dann die Autos quasi nur mehr Quanten, die Fußgänger und Straßenbahnen. Man bemerkt ihre Entität, ihre Bewegung, Beziehungen, aber keine spezifischen Eigenschaften des einzelnen Fußgängers (oder eben Quants) mehr. Quant zu sein ist meines Erachtens ja eher eine Eigenschaft, die den Teilchen vom Betrachter zugewiesen wird. Aber da bin ich jetzt spekulativ; die ernsthafte Forschung bewegt sich auf Pfaden, beginnend in eben unserer Sinneswelt, auf denen jeder Fortschritt mühsam mathematisch und durch Experimente abgesichert werden muss, veröffentlicht nichts, was nicht abgesichert ist.

Weil ich aber spekuliere, lass ich jetzt einmal ganz die Zügel fahren und erzähle von einer wunderbaren Welt, wie ich sie mir vorstellen kann.

In dieser Welt kann man statt »Quant« auch »Möglichkeit« sagen, oder »Potenzial«. Die Grundlage unserer Welt ist dieses allgegenwärtige Vorhandensein von Möglichkeiten. »Allgegenwärtig« dürfen Sie jetzt nicht auf eine dreidimensionale Raum-Zeit-Bühne, wie wir sie als Lebensumgebung erleben, beziehen. Die Quanten sind einfach immer und überall, wirklich überall, sozusagen in allen Dimensionen des Jederzeitigen und Überalligen. Physikalisch-mathematisch könnte man dazu Quantenfeld sagen, aber das ist nicht gleichbedeutend mit dem, was man in der Physik als »Quantenfeldtheorie« bezeichnet. Die »Quantenfeldtheorie« ist eine Methode, mein Quantenfeld eine Annahme, wie wenn man den Ozean als eine Ansammlung von Wassertropfen sehen würde. Dass es dieses Quantenfeld gibt und nicht einfach nur Nichts, das ist bemerkenswert. Es ist insofern besonders bemerkenswert, als dass das Vorhandensein dieser Möglichkeiten, dieses Potenzials, ja alles einschließt, was sich daraus entwickelt und entstehen kann.

Und aus den Quanten entwickelt sich laufend etwas: Quantenpaare können im Weltraum entstehen und vergehen, dort, wo nach unseren Maßstäben Vakuum herrscht. Quanten können sich in den wildesten Mustern verbinden, zerfallen, miteinander Tanzen, wahrscheinlich nicht nur in unserem Universum. In diesem aber haben sich in seinen Frühzeiten Protonen gebildet, mit Elektronen zu Atomen verbunden. Immer kompliziertere Strukturen sind entstanden und haben immer komplexere Elemente geschaffen, die sich verbunden haben, zu Leben geworden sind, schließlich zu Dir. Ein insgesamt evolutionärer Prozess. Damit sind wir wieder bei der Zeit.

In der Physik ist es derzeitiger Stand, unser Zeiterleben auf die »Entropie« zurückzuführen, das ist ein Maß für die Unordnung in einem System. Es ist ein Phänomen, dass sich Ungleichgewichte statistisch gesehen eher ausgleichen als bilden. Die Luft entweicht eher aus einem Ballon, der mit einem höheren als dem Umgebungsluftdruck aufgepumpt ist, als einen leeren Ballon von sich aus, ohne Fremdeinwirkung, zu füllen. Die Milch vermischt sich mit dem Kaffee und entmischt sich nicht, und herabfallende Gläser gehen eher zu Bruch, als sich aus den Scherben wieder zu einem ganzen Glas zu verbinden. Und dieser Hang zur Unordnung ist das, was uns das »Vergehen« der Zeit wahrnehmen lässt. Die Ordnung unserer Körperfunktionen wird ... Naja: Zum Altern gehören Mut und Humor.

Mir stellt sich dazu aber eine Frage: Wie gebannt blicken wir auf die Entropie, obwohl sie ja wirklich nur ein statistisches Phänomen ist. Und wir betrachten unheimlich gern den Weg in eine höhere Entropie. Müsste man aber nicht der Strukturbildung aus dem Quantenfeld die gleiche Aufmerksamkeit zukommen lassen wie der anwachsenden Entropie, dem Zerfall von Strukturen? Was bewegt die Quanten, Strukturen hervorzubringen. Im Sinn der Physik muss das ja wohl eine Kraft sein, wie auch der Zerfall einer Kraft bedürfte. Man könnte auch ein Kraftfeld annehmen: Durchdringt das Kraftfeld das Quantenfeld, dann entsteht etwas, verlässt das Kraftfeld das Quantenfeld, dann vergeht etwas. Wenn wir es reduzieren, auf den Punkt bringen: Wir haben die Quanten«, also die »Möglichkeiten«, das »Potenzial«, und die »Kraft«, zu der wir auch »Energie«, aber auch »Willen« sagen könnten.

Vielleicht sollten wir nicht nur die Quantenphänomene vereinzelter Quanten, sondern auch Strukturbildungsphänomene - Beziehungen - untersuchen. Weil wir diese Quanten ja nicht untersuchen können, ohne mit ihnen wechselzuwirken: Vielleicht versuchen wir, unsere Welt aus der Sicht der Quanten zu begreifen und beschreiben (das ist jetzt wohl ein wenig salopp formuliert). Vielleicht begriffen wir dann auch Phänomene wie die Quantenverschränkung, Wirkungen über verschiedene Dimensionen hinweg, in Paralleluniversen? Am Ende der Fragen wären wir damit beileibe noch nicht, aber bedeutend weiter als am Rand der flachen Welt oder beim Zusperren von Patentämtern, weil ja doch bereits alles erfunden ist.

Solche Forschungen wären sinnvoller, als Krieg zu führen oder Milliardenvermögen anzusammeln oder sonst noch viel (außer Musikhören, Motorrad und Fahrrad fahren, Tanzen, glücklich sein und einvernehmlicher guter Sex).

Ich höre jetzt auch zu fantasieren. Aber eines möchte ich schon noch anbringen: Es kommt nichts weg in unserer Welt, noch viel weniger, wenn wir uns bis auf die Quantenwelt zurückführen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir mit allem in Beziehung stehen. Ich meine das jetzt nicht ökoromantisch, aber letztendlich führt es mich doch zu Achtung und Respekt vor der Welt, vor den Wundern, die meine Welt bilden. Es macht mich demütig und ehrfürchtig, dass es etwas gibt und nicht Nichts. Ich erkenne meinen Kleinmut in den Ängsten vor meinem persönlichen Vergehen ...

Zaubern

Über vieles wird wild diskutiert, aber oft sind die umstrittenen Begriffe nicht klar festgelegt. Der »Materialismus« ist einer dieser Begriffe. Von der einen Seite als schnöde Reduktion der Welt geächtet gibt es offenbar mehrere andere Seiten. Einen »Materialismus«, der es verdient, gering geschätzt werden, weil er die Welt und das Leben auf ein hier und jetzt und materielle Werte reduziert. »Wir leben nur einmal, wir leben kurz!« Also gilt es, dieses Leben mit allem zu füllen, was es scheinbar lebenswert macht, und das ist wohl materiell, auch in Geldwert auszudrücken. Naja!

Und dann gibt es noch einen »Materialismus«, der Grundlage einer Welterkenntnis ist, der davon ausgeht, dass wir alle doch Kinder der Materie wären, bestehend aus Molekülen, Atomen, derer Bindungen und Interaktionen, dass wir unsere Kultur nur haben, weil es unsere Natur uns erlaubt. Dies ist sicher nicht so reduziert gedacht wie der zuvor angedeutete »Geldwertmaterialismus«. Vielleicht ist sogar die Bezeichnung Materialismus nicht ganz richtig, weil die Physik sich gar nicht mehr so sicher ist, was Materie sein könnte, und auch der Raum und die Zeit, in denen sie für uns existiert, möglicherweise keine grundlegenden Gegebenheiten sind. Alle diese scheinbar handfestenSachverhalte sind durch die Entdeckung der Quantenwelt zu Erscheinungen geworden, Bildprojektionen aus einer tieferen Realität. Und gleichzeitig erkennen wir, dass wir nicht abgetrennt sind von dieser tieferen Realität, dass diese allenthalben hineinwirkt in unser Leben, beim Sehen, beim Riechen, möglicherweise in die Funktion unseres Gehirns, in unser Ich-Bewusstsein (Sir Roger Penrose, brit. Mathematiker). Technisch machen wir auch regen Gebrauch von Quanteneffekten, in der Elektronik, Optik, hin bis zu Rechenwerken, den sogenannten »Quantencomputern«. Vielleicht sollten wir zu einer Weltbetrachtung, die uns solche Modelle, Realitäten (?) zeigt, wirklich nicht »Materialismus« sagen. Jedenfalls sind Einschränkungen, weswegen der »Materialismus« von anderen Seiten, die gerne Autoritäten wären, geächtet wird, bei der Komplexität des bisher durch wissenschaftliche Forschung bekannt gewordenen Weltbilds nicht absehbar. Und je mehr wir erkennen, desto größer werden die Freiheiten.

Peter war in seiner Arbeitswelt ein Kapital-Materialist gewesen, für den sehr wohl gegolten hatte, dass die Welt beschränkt wäre, wenig und deprimierend. Verwunderlicherweise hatte er seinen wirtschaftlichen Absturz überlebt, nicht leicht zwar, aber in dieser wilden Hochschaubahnfahrt hatte es nicht nur Strecken gegeben, in denen er fast frei gefallen war, auch bremsende Bergaufpassagen, kurven mit wilder Fliehkraft, Salti mit Verwirbelung und Verwirrung. Aber letztendlich war die Fahrt langsamer geworden, er war zum Stillstand gekommen. Wenn er genauer darüber nachdachte, wenn er sich zuließ, darüber nachzudenken, dann meinte er schnell, dass er noch immer führe, noch immer von links nach rechts, von oben nach unten geschleudert würde, aber die Fahrt war nicht mehr wild. Sozial, gesundheitlich war er stabil, und das, was er da noch zu verspüren glaubte, das fühlt wohl jeder Mensch, der nur entsprechend in sich hineinhorcht. Peter war empfindlich geworden in der jüngeren Vergangenheit, voller Angst.

Empfindlich war er aber nicht nur im Sinn von geschwächt, heikel, mimosenhaft und schwach geworden, sondern auch im Sinn von einfühlsam, zartbesaitet und empathisch. Seine Geduld war größer geworden, und er hatte plötzlich mehr Zeit. Das ist ja wohl toll, wenn man etwas Angenehmes macht, das ist gut, um ordentlich zuzuhören, das kann aber auch Angst machen. Hochschaubahn!

Er würzte sein Essen kaum mehr, und plötzlich spürte er, wie die Dinge schmecken, oder - wenn er einmal Essen ging - was der Koch da komponiert hatte. Wenn sich nicht Salz, Knoblauch und Schärfe in den Vordergrund drängten, wenn das trockene Röstaroma des Pizzamehls oder der Duft und Biss der Brechelbohnen in Mund und Nase ausklingen konnten. Zumindest manchmal spürte er es, hin und wieder halt auch die Hochschaubahn.

Peter war - trotz seiner materiellen Misserfolge - Materialist geblieben: Er glaubte an den Erkenntnis-Materialismus, nicht als umfassendes und erfülltes Weltmodell, aber als Methode, in die er Vertrauen hatte. Er legte die Maßstäbe seiner Logik und seiner Kausalitätsansprüche an die Welt, um Wahrheit und Schwurbel auseinander halten zu können, und war deswegen keiner, dem man leicht ein A für ein O hätte vormachen können. Und deswegen war er sehr überrascht, als er - nach einigen Zurückweisung solcher Erlebnisse - erkennen musste, dass er auf eine eigenartige Art und Weise zaubern können musste. Kein Hokus-Pokus, kein Simsalabim, nichts tauchte aus dem Nichts auf, nichts entschwand im Nichts, nichts wechselte seine Gestalt. Es waren unscheinbare Kleinigkeiten, die da passierten. Es waren nicht bloß merkwürdige Verschiebungen statistischer Wahrscheinlichkeiten, zum Beispiel dass er mehrfach hintereinander eine Sechs würfelte, obwohl auch das passieren konnte. Meistens passierte etwas Neues, Unerwartetes: Zum Beispiel fand er etwas, sozusagen am Wegesrand, und im Augenblick des Findens wurde ihm bewusst, dass genau diese gefundene Sache es war, die er genau jetzt brauchte.

Es war gar nicht klar, ob er etwas aktiv mit diesen Zaubereien zu tun hatte, aber sie passierten um ihn herum, und sie passierten erst in jüngerer Vergangenheit. Früher war er nie so von Zufällen - oder wie immer man es nennen wollte - begünstigt worden. Zumindest war es ihm nie aufgefallen. Irgendwie war er auch zu dem Glauben gekommen, dass der Zauber nur funktionierte, wenn er quasi wunschlos wäre, dass er also nur bekommen würde, was er sich nicht dringend un unmittelbar wünschte. Die hatte die - für Peters Psyche - positive Folge, dass er alle seine Wünsche und Begehrlichkeiten durchforstete und ausmistete, soweit man das überhaupt kann. Und es hatte auch zur Folge, dass sich Peter in einen Zustand der wunsch- und erwartungslosen Ruhe versetzen konnte, was schon fast wie Meditieren ist. Aus dem Abwarten wurde im Lauf der Zeit Selbstvergessen. Peter begann sich auf eine ganz neue Art zu spüren.

Dieser ganze Prozess fand in etwa der Zeit statt, in der er Melanie in Linz kennenlernte. Anfangs noch der smarte Businessman, zumindest scheinbar, durchlief er die wenigen Wochen mit Melanie in seinem Geschäftsleben einen rasanten Abstieg. Sein Leben mit Melanie blieb unverändert, aber er spielte ihr auch nie vor, ein toller Hecht, eine große Nummer zu sein. Er wusste nicht einmal, wer Melanie für ihn war. Sie gefiel ihm, ja! Gleichzeitig hielt er sie für anstrengend, für labil. Vielleicht war es ja diese vermutete Labilität, die ihm die Kraft zu seiner Ruhe gab.

Einer Sache wurde er sich zunehmend sicher: Wenn er jemals für einen anderen Menschen zaubern können würde, dann sollte es für Melanie sein, für Melanies besseres Leben ...

000 00:00