Das Theresienthal
Die Zeit, das Land, die Leute
Wenn ich etwas belletristisches schreibe, meine Geschichten erzähle, dann passiert das alles in und um das Theresienthal herum. Vielleicht wird eine Reise gemacht, vielleicht wird irgendwer verschleppt. Aber Alles und Jede/r kehr zurück. Muss zurückkehren.
Ich darf Dir die Gegend daher ein wenig beschreiben:
Das Theresienthal liegt in Mitteleuropa, Österreich, in den nördlichen Voralpen, nahe der Donau, und ist altes Bauernland, altes Kulturland, Kernland in Österreich, das hier - angeblich - namentlich das erste Mal um das Jahr 995 als »Ostarrichi« auftaucht.
Der Fluss beginnt als kleiner Bach in den Voralpen, wo die Gegend in der letzten Eiszeit hoch mit Gletschern bedeckt war. In diesem Zeitalter wurden die Kalksteinfelsen abgetragen, die scharfen Gipfel der Kalkberge in Vielzahl gestutzt, die Täler wurden ausgeschliffen, der Kalk zerbrochen. Nach dem Eis kam das Leben, und das Wasser rollte die Steine talwärts, rollte sie rund, schliff sie glatt, und verklebte sie weiter unten im Tal zu einem Konglomerat, nicht Fels, nicht Schotter, nicht fest, nicht weich, sodass der Fluss, jeder Fluss, sich nur einen schmalen Graben schürfen konnte in den Jahrtausenden, durch mehrere Gesteinsschichten hindurch, mehreren Mäandern entlang.
Das Theresienthal ist - geologisch gesehen, auch wenn man es altherthümlich schreibt - eine junge Landschaft, eine Gegend, in der keine vorgeschichtlichen Geister müde ausharren, die Menschen ins Unglück zu stürzen. Das Land ist so alt wie die Menschen, die die Wälder gerodet und die Felder und Weiden und Teiche und Wehren angelegt haben. Im Quellgebiet finden sich als Überbleibsel der Vergletscherung Seen, es ist kalt zwischen Fichten, Farn und Pestwurz. Der Fluss hat sich in verschieden breite Talböden gegraben, blumig, felsig, und kühlt das Land im Sommer wie auch im Winter. Forellen gibt es, Rotfedern, Weißfische, invasive Signalkrebse, aber auch noch die einheimischen Flusskrebse. Teilweise ist das Gerinne breit, mit Inseln voller Weiden, Pappeln und Schwemmholz. Dann schießt das Wasser wieder durch enge Kanäle schäumend zwischen den Felsen, und die Gämsen blicken von den Schrofen, die sich durch die Bäume strecken, herab. Es gibt etliche Wehren, Staubauwerke, Kanäle, weil man Eisen geschmiedet hat, Eisen vom Erzberg, zu Waffen, zu Pflugscharen, und so reich geworden ist, mancherorts. Im späten Herbst, im tiefen Winter, im frühen Frühling, liegen dicke Nebeldecken im Flusstal, und nur die Hügelspitzen lugen heraus wie Inseln. Jeder Hügel ein Kirchlein, jedes Kirchlein eine Geschichte, eine Sage.
Tausende Protestanten hatten das Land verlassen müssen im Zug der Gegenreformation, die dem Land zwischen den vielen Kirchlein, Bildstöcken, Marterln, manche barockprächtige Wallfahrtskirche, manches Kloster eingebracht hat. So ist dieses vergessene Land nun absolutkatholisch, und es streiten hier unter der Herrschaft der immer gleichen konservativen und etwas klaustrophoben Machthabenden, die die vorgenannten Eigenschaften zumindest vorzeigen wie einen noblen Gehrock, nur Gott und der Teufel um die Seelen der Menschen. Denn wo ein Gott nahe ist, ist auch ein Teufel nicht fern. Doch die Geplänkel sind nicht wild, es gibt keine dröhnenden Schlachten, solang sich nichts ändert. Weder die Fehden der höheren Mächte, noch die Konflikte zwischen und in den Menschen werden laut, werden offenbar. Da mag schon manch einer, eine, daran zerbrochen sein, an dieser drögen Welt. Und doch ist dies nur die Ansicht von der einen Seite. Schön und gut - von der anderen Seite besehen - sind die Naturverbundenheit der Menschen, ihr nachhaltiger Lebenswandel, ihre jederzeit verbindliche Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft und die Blüten der Apfel- und Birnbäume auf den milden Hügelketten im Frühjahr, das satte Grün, der weite Blick, der riesige Wolkenhimmel und die Freiheit des Atems.
Auch wenn im Talgrund Gewerbe und Industrien, auch die Wohnsiedlungen, in den letzten Jahren kräftig gewachsen sind, verstehen sich die Einwohner noch in bäuerlich-ländlicher Tradition und tragen gern Dirndlkleider, Lederhosen und Trachtenanzüge, obwohl diese Bekleidungsstücke immer schon Mimikri waren, ihren traditionellen Charakter allenfalls aus den gegenwärtigen Wiederholungen ziehen. Und in vergleichbar gezogenen Bahnen bewegt sich auch die Denkweise der Menschen: Eine bestimmte Form, die für Ästhetik gehalten wird, eine fühlbare Langsamkeit, zu verstehen als leichte Trägheit, mittlere Sturheit, arges Patriarchentum. Alles zusammen wird hierzulande zwar bemerkt, aber als eine Art von Charakterstärke gesehen, bei der das Angenehme die Berechenbarkeit ist.
Jede Frage wird vorerst einmal damit beantwortet, dass alles in Ordnung sei, dass es einem gut gehe. Gleichzeitig wird auf die Politik, die Verwaltung, geschimpft, obwohl es einem doch gut geht. Und gewählt werden immer wieder die konservativen Parteien, als Folge ihrer Wahlprogramme: Gegen das Schlechte, für das Gute (wenn man sie eben lässt, wenn sie eben können, nichts anderes, Dringendes ansteht). Es ist schon merkwürdig, wie man einen Anschein aufrecht erhalten kann, gleichzeitig zu regieren und Opposition zu sein. Aber das gehört auch zum Wesen der Menschen im Theresienthal, das Machen und das Lassen.
Auf den beginnenden Hängen liegen Bauerngüter mit typischen Vierkanthöfen, die Hörndl- und Körndlwirtschaft betreiben, durchaus modern, durchaus industriell, und weiter in die Berge hinein dominiert dann die Mutterkuhhaltung und Milchwirtschaft, zum Teil gibt es auch Schafe, neuerdings auch Lamas, Alpakas und sogar Kamele. Zwischen den Weilern, Dörfern, Märkten, Ortschaften ziehen sich weite Strecken ohne Bebauung hin, ganz anders als am Talgrund, ganz anders als in anderen Tälern, auch in benachbarten. Und ein weiterer lebenswerter Umstand ist der fehlende Massentourismus, der sich lieber auf angeblich sensationelle(re) Landschaften konzentriert. Das Theresienthal erscheint zu selbstverständlich, aber allenfalls den Einheimischen, die die Ruhe dieser Weltengegend wahrscheinlich gar nicht bemerken.
Man hätte gut zu leben vermeint im Theresienthal, um das 2020er-Jahr herum, wenn nicht weltweit eine Pandämie ausgerufen worden wäre, verursacht durch einen in seinen Wirkungen noch unerforschten Coronavirus, der anfangs Angst und Schrecken, Negation und Protest in großen Teilen der Bevölkerung verursachte. Und einen Krieg gibt es neuerdings, einen Krieg, der so nah ist, dass man ihn riechen kann. Eigentlich kann man ihn nicht riechen, man kann ihn spüren, in der Geldbörse, weil alle Sachen teurer werden: Zuallererst die Energie, und natürlich ziehen dann alle Preise und Gehaltswünsche und wiederholt steigende Preise nach.
Ein weltweiter Virus passt ja schon einmal irgendwie nicht ins abgeschlossene Theresienthal. Einen Krieg hätte man kennen sollen, aus der Zeit der Eltern und Großeltern, aus genügend Spuren im Land. Aber dieser vergangene große Krieg war »ausgeschieden« worden aus der kollektiven Erinnerung, wie ein alter, unbrauchbarer Inventargegenstand. Jetzt ist plötzlich wieder Kampf und Pulverdampf in näherer Umgebung, spürbar: Dieser neue Krieg ist unangenehm, dieser nahe Krieg, weil er kostet Geld, man weiß nicht, was nicht alles noch passieren wird wegen dieses Krieges, in der kommenden Zeit. Und so hat - unerwartet und plötzlich, aber gleichzeitig irgendwie auch still und heimlich -, so hat das moderne Leben mit seinen Themen, Aufregern und technischen Gimmicks auch hier Einzug gehalten, sodass im Theresienthal quasi zwei Welten zu existieren scheinen: Die alte, traditionelle, auf die man sich in seinem Selbstverständnis gerne beruft, auch, um von Veränderungen verschont zu bleiben, und die neue, moderne, die Angst macht, auf die man sich aber auch gerne beruft, um als Geschäftspartner was herzumachen.
Es gab und gibt Wehmut, oft auch in der Literatur, über das Gefühl, zwischen diesen alten und neuen Zeiten verloren zu sein, nirgends eine Heimat zu finden. Alles nur persönliche Metaphysiken, wie auch die Phänomene, die man dem Virus, den medizinischen Maßnahmen dagegen, der Wissenschaft, dem alten Krieg, allem Neuen, dem Bösen an sich und überhaupt dem jeweils Anderen zuschrieb und auch jetzt zuschreibt. Angst und Schrecken wurden und werden auch jetzt benutzt, Menschen anzutreiben, hierhin, dorthin, gegeneinander. Damit ist es zum Krieg gekommen jetzt, wieder. Wir leiden, hetzen und helfen mit. Wir stecken tief im Wirbel der Emotionen, sind böse aufeinander, weisen uns gegenseitig Schuld zu, und ich bin gespannt, auf welche Art sich die Wogen wieder legen werden, wie es sein wird zwischen den Menschen, wenn dann die Pandämie abgesagt sein wird, wenn man den Krieg ausmachen will.
Wir nähern uns dem Tatort, dem Sammelpunkt vieler Geschichten, dem kleinsten gemeinsamen Nenner, dem größtem gemeinsamen Teiler, mitten im Theresienthal. Zumindest ist es der Standpunkt, von dem aus ich die Welt sehe und beschreibe.
Den Namen der Ortschaft will ich Ihnen nicht preisgeben, aber der Platz liegt im Mostviertel, an den Ufern des Ybbs-Flusses, der früher »Ois« geheißen hat. Er liegt noch immer am Flussufer, was nicht ganz selbstverständlich ist, weil ja Natur und Mensch da oft massiv umgestalten. Es ist gar nicht so einfach, die Flussufer, wie sie in weiter Vergangenheit verlaufen sein mögen, klar aufzufinden. Das Land ist einmal Gletscherland gewesen, das Tauwasser hat sich in verschiedenen mäandernden Rinnsalen Kanäle in das Konglomeratgestein gegraben, Material verfrachtet, das jetzt als Lehm in den etwas höheren Bereichen - wir reden hier von einigen wenigen Metern - abgelagert ist. Jetzt ist der Fluss tief eingegraben in die brüchigen Felsen, wie die Wasserwehr einer Rittersburg, dann kommen beiderseits der neuen Uferfelsen einige hundert Meter Ebene, bis dann lehmiges Schwemmland anschließt, dann die Berge oder das Tal der Url, des nächsten Flusses, eher nur ein Bach. Die sich verändernden Flussläufe haben also die Landschaft gestaltet, weniger in den Bereichen, in denen es noch höhere Berge und Hügel gibt, mehr hier, im ehemaligen Schwemmland, hier, wo das enge Tal weit zu werden beginnt.
Schon die alten Römerstraßen führten diesen Fluss entlang in die Berge, zum Salz, zum Eisenerz, nach Westen. Die Lage des Ortes über dem Fluss, geschützt auf einem Hang, einer »Leite«, wie man hier sagt, vom neuen Flusstal zu einer Hochebene, dem Überbleibsel vorsteinzeitlicher Flussverläufe vor den ersten Hügeln der Voralpen, war offensichtlich strategisch derartig interessant gewesen, dass die Römer hier einen Turm errichtet haben. Um diesen Turm herum war bald eine kleine Wehrsiedlung gewachsen, ein vorwiegend bäuerliches Dorf, das schließlich ein mittelalterliches Marktrecht erhalten hatte: Hier wurde gehandelt, mit Vieh, mit Getreide, mit Lebensmitteln, mit Werkzeugen.
Unterhalb dieses Marktes, unter dem steilen Hang, am Fluss, haben sich auch einige Menschen angesiedelt. Vielleicht haben sie den Vorspann gestellt, wenn Fuhrwerke über den Hang, die »Leite«, zum Dorf hinaufgebracht werden mussten. Vielleicht haben sie bei der Flussquerung geholfen und kassiert.
Irgendwie wichtig musste der Markt auf der Hochebene gewesen sein. Im Mittelalter wurde aus dem Wachturm eine kleine Burg, zu der man jetzt »Schloss« sagt. Doch prunkvoll ist das Anwesen - auch nach einer jüngeren Renovierung - nicht. Aber es gibt manche Sagen, von Hexen, von Türkenbelagerungen, die für den Markt nicht stattgefunden haben, weil die Hexe einen Landstreifen einbrechen ließ mit den Angreifern darauf und darin. »Wilder Graben« heißt diese Kuhle jetzt, es entspringt dort eine Quelle, ganz ohne Blut. Weniger Glück hatte allerdings ein Müller am Fluss, der angeblich gefangen und lebendig gehäutet wurde. Der ehemalige Standort der Mühle heißt nun »Stiefelmühle«, und sie können sich ja wohl selber das Rohmaterial und die Machart dieser Fußbekleidung vorstellen. Wir wissen das alles aber nicht so genau, und die Zeit schleift und verformt die Fakten. Ich wünsche mir, dass alles für Menschen erträglich gewesen sein soll.
Viel Wald muss es gegeben haben, doch der wurde wohl abgeholzt: Für die Holzkohle zur Stahlverarbeitung in den »Eisenwurzen«, ein unmittelbar angrenzender Landstrich um den steirischen Erzberg herum, für die Papiererzeugung. Um 1880 herum wurden im Ortsteil am Fluss und in einem Nachbarort Papierfabriken errichtet, in denen aus Holzfasermaische Papier gekocht, geschöpft, gepresst wurde - und noch immer wird. Der Ortsteil am Fluss wuchs und wuchs, die Betreiber der Papierfabrik errichteten vor gut 100 Jahren ein Krankenhaus, Arbeiterquartiere, eine »Fürsorge«, das war wahrscheinlich so etwas wie ein Altenheim. Wenn ich mir vorstelle, um wie viel brutaler die erste industrielle Revolution in England vonstattengegangen sein dürfte, dann rührt mich das schon. Aber ich stell mir das ja nur vor, ich bin kein Fachmann oder Historiker.
Im Friedhof des Ortes steht eine kleine Kapelle, auf der der Namen »Ellissen« verewigt ist. Mir gefällt der Namen, und ich dachte lange, so hätte die Fabriksgründerfamilie geheißen. Tatsächlich taucht dieser Namen aber erst nach dem Ersten Weltkrieg auf, da wurde die Papierfabrik von einem Hubert Ellissen (7. 11. 1888; † Wien, 6. 2. 1937) übernommen. Wie ich las, ein geschätzter Fach- und wohl auch Ehrenmann. Angesichts des Krankenhauses, der Fürsorge, der Wohnhäuser denk ich das auch. Die Häuser waren alle schönbrunnergelb (obwohl Schönbrunn ursprünglich rosa getupft gewesen sein soll), mit - wahrscheinlich nur angedeuteten - Fachwerkselementen, Holzhütten, Waschküchen, Nutzgärtlein.
Über die Geschichte vom Ersten Weltkrieg an wurde uns nicht mehr viel erzählt, nicht in der Schule, nicht von unseren Eltern, Großeltern, wir konnten sie nur selber entdecken: Im Föhrenwald jenseits des Flusses steht jetzt noch eine seltsame Ruine, ein löchriges Dach auf Betonsäulen, das bei den Einwohnern »Judentempel« heißt. Es sieht tatsächlich wie ein Tempel aus, sodass der Namen nicht nur blasphemisch ist. Eine Munitionsfabrik hätte im tausendjährigen Reich, das schneller vergangen ist als das meiste andere, an dieser Stelle errichtet werden sollen. Das muss schon in der Endphase des großen Krieges passiert sein, weil fertiggestellt wurde das Bauwerk nicht. Und wenn man im Wald spazieren geht, Pilze sucht, dann kommt man an ganzen Reihen von Erdlöchern und kleinen Hügeln vorbei. Sehr spät erst habe ich begriffen, dass dies die Überreste von Bombenabwürfen, Bombenteppichabwürfen, sein müssen, in denen da jetzt Bäume und Gras wachsen.
Angeblich sind viele KZ-Insassen hier getötet worden, auf der Baustelle der Munitionsfabrik, von unseren Vorfahren, von Bomben der Alliierten? Wir wissen es nicht. Jetzt hat der Beton schon sehr gelitten, durch das Dach tropft das Wasser. An den Säulen finden sich Kratzspuren und Graffitis, ein einziges Hakenkreuz unter etlichen Judensternen und Regenbogenfahnen, neben Namen von Angebeteten, Geliebten. Beruhigend irgendwie.
Es gab ein anderes Haus, nicht hier in der Forstheide, sondern in der Nähe des »Wilden« Grabens, bei dem von den Russen - angeblich - Exekutionen durchgeführt worden sind. Oder waren es doch unsere wildgewordenen Vorfahren? Es ist alles vergangen, Vergangenheit, dunkel, leider unerinnert. Ich wollte, Ähnliches wäre heute unvorstellbar, aber das wird leider ein Wollen bleiben. Angesichts des Ukraine-Krieges wundert und erschreckt mich, dass - und wie - der Willen eines Einzelnen letztendlich - nach fortwährenden Manipulationen, wilder Propaganda, Netzwerkbildungen - dazu führen kann, dass ganze Völker aufgehetzt aufeinander losgehen können, dass unsere Zivilisationen so instabil sind.
Bei den Kirchen, in den Friedhöfen der Ortschaften am Land sieht man Tafeln, die es in der Stadt in dieser ins Auge fallenden, häufigen Form nicht gibt: Die Gefallenen im ersten und zweiten Weltkrieg sind hier verewigt. Geschätzt wird es ein Viertel bis zu einem Drittel im Ersten, mindestens jedoch ein Drittel, manchmal über die Hälfte der männlichen Bevölkerung dieser Ortschaften im Zweiten Weltkrieg sein, die als Soldaten für Kaiser oder Führer gefallen sind. Für nichtmilitärische Opfer dieser Schlächtereien gibt es wohl keine »Ehrentafeln«. So wissen wir nicht, wie viele zivile Personen sterben haben müssen, und wir kennen schon gar nicht die Schicksale, die nicht zum Gewalttod, sondern nur in Leid und Armut geführt haben. Sie haben geschwiegen, die meisten unserer Vorfahren haben geschwiegen uns gegenüber. Aus Scham? Weil sie es nicht wussten? Aus Angst vor den Besatzern? Aus Angst voreinander? Einige Vorlaute glauben in unserer neuen Zeit schon wieder sehr an sich, ich weiß nicht, woran: Soziopathen! Es sind wenige, vereinzelte, und so bleibt es hoffentlich, jetzt und in der Zukunft.
Wenn man aus der großen Stadt kommt, wenn man es zulässt, dann ist das Leben am Land viel direkter, unmittelbarer als in der Stadt. Es gibt zwar weniger Nachbarn, aber man redet mit ihnen. Es ist nahezu unumgänglich, mit ihnen zu reden, weil sie zu sichtbar sind, um ihnen ausweichen zu können unter Berufung auf die große Menge. Man kann nicht durch die Ortschaft gehen, ohne den Entgegenkommenden ins Gesicht zu schauen und zu grüßen, egal mit welchen Gefühlen das auch passiert. Nichtgrüßen läge nahe an einer Kriegserklärung, und es bliebe einem nicht erspart, in der Folge eine Ehrenerklärung abzugeben, nicht nur dem Ignorierten, sondern einem weiteren Personenkreis gegenüber, weil hier viel beredet wird. Oder man führt diesen Krieg eben. Gnadenlos!
Man lebt hier direkter, brutaler, auch wenn es doch immer »gut geht«. Ja: Auch in der Stadt hört man vom Unglück oder Tod von Bekannten. Hier erlebt man das Schicksal der Nachbarn zum Sterben hin, aber auch, wie sehr das im Dorf als »natürlich« hingenommen wird; es ist nicht so abstrakt und wird nicht gleichzeitig als unfassbar verdrängt wie in der großen Stadt, es ist nur ein Beispiel für die Unmittelbarkeit des Landlebens. Tragödien betreffen immer nur einzelne Menschen, die anderen, die Dörfer insgesamt ändern sich - angeblich und deshalb so gefühlt - nur langsam. Die entsprechenden Ängste sind deswegen klein. Das Böse kommt immer von außerhalb.
Manche hier leben hauptsächlich in der Menschenwelt, unter Brüdern und Schwestern, Konkurrenten und Feinden, andere wiederum sehen sich als Teil eines insgesamten Seins. Bei der weitaus überwiegenden Anzahl der Einwohner spielen die letztendlich immer gleichen sozialen Bindungs- und Trennungsfaktoren eine Rolle: Besitz, Status, Begehren, Geilheit, Neid, Eitelkeit, Furcht, Angst, Zorn, Hass, was immer es da auch gibt, in welcher Konstellation und Mischform auch immer. Ortsspezifisch sind allenfalls die Maßstäbe und die Verfügbarkeit der Zutaten, seien es jetzt materielle - zum Beispiel die hiesigen Grundstückspreise - oder moralische - die spezifisch hiesige Interpretation von Respekt im Ort, in der örtlichen Vereinshierarchie.
Ich hab sie ihnen ja schon zu beschreiben versucht, aus vielen Blickrichtungen, die hiesigen Ureinwohner. Hier, wo sie gerade in die Lektüre einsteigen, möchte ich Sie keinesfalls langweilen. Ich male nichts weiter aus, ich erzähle keine erläuternden Anekdoten, weil Sie die ja in den nachfolgenden Geschichten finden können. Sie könnten auch hierher, ins Theresienthal kommen und sich selbst ein Bild machen. Es braucht aber ein wenig Geduld, in die Seelen der Einheimischen eingelassen zu werden. Sie haben eine harte, blickdichte, langweilige Schale, die Theresienthaler. Land und Leute haben aber auch viele wunderbare und wunderschöne Seiten.
Was ich - mit einigem Schrecken und mit Schaudern - allerdings auch bemerken musste, sind die raschen Wertewandel der letzten Jahre, jüngsten Jahrzehnte: »Geiz ist geil!«, »Whataboutismus«, der schon deswegen Gewicht hat, weil es jetzt mit diesem Namen sogar einen Terminus dafür gibt. Und der offene Neid, die Verdrängung, die verdienen es auch, namentlich erwähnt zu werden, weil sie neuerdings so gern eingesetzt werden, um sich in seiner persönlich entfesselten Niedertracht gut zu fühlen. Die unangenehmen Fakten werden beiseitegeschoben, umgedeutet, entwertet. Die Geschehnisse um Corona, auch die Interpretation der Geschehnisse um den Ukrainekrieg, haben die Konturen leider nochmals klarer herausgearbeitet, und diese können erschrecken. Ich darf hier auch darauf verweisen, dass bürgerliches Recht und Strafrecht bis vor wenigen Jahren noch quasi eine Art Notbremse waren, wenn Anstand und Moral versagt haben. Heute werden diese Rechtsgebiete als etwas weltfremd und überzogen, als »woke«, dargestellt, von manchen zumindest. Offenbar sind es ja »Vorbilder«, die diesen Wertewandel angetrieben haben. Die Bezeichnung »Vorbild« scheint mir für diese Sorte von Lebewesen ziemlich unpassend.
Trotz aller Kritik liebe ich sie, diese Menschen. Ich muss mich zwar manchmal zur Ordnung rufen, aber dann mach ich es, weil diese Liebe, ihre Gründe, ihre Wirkung, von mir auch gründlich untersucht worden sind. Ziemlich abstrakt liebe ich die ganze Menschheit, aber das kann man ja auch leicht behaupten im Hinblick auf eine unfassbare Menge, der man nie direkt begegnen kann. Nicht so sehr mag ich, wohin diese Menschheit sich zu entwickeln scheint, aber da versuche ich, loyal zu sein: Mitgefangen, mitgehangen, so ist es nun einmal.
Den Bewohnern vom Theresienthal, denen begegne ich doch oft, gewollt und ungewollt, bewusst und unbewusst. Da spüre ich dann jedes Mal sehr unmittelbar, ob ich das will oder eher nicht so gern möchte. Aus einigem Sicherheitsabstand, da liebe ich sie aber doch alle, die Talbewohner, über die ich zuvor noch gelästert habe. Ich bemerke ihre Liebe, mit der sie ihre Welt und ihre menschlichen Beziehungen gestalten wollen. Ich sehe ihre Hoffnungen, dass sich alles ausgehen möge für sie und ihre Lieben, ihren Glauben an höhere Mächte und ausgleichende Gerechtigkeiten. Ich habe Verständnis für ihre Ansichten, ihr einfaches Wissen, das Grundlage dieser Ansichten sein dürfte. Ich verzeihe ihnen ihre Wut, denn ich kenne ihre Angst. Ich bin einer von ihnen, so wie sie, mitgefangen, mitgehangen.
Wahrscheinlich werden Sie jetzt, nach diesen ellenlangen Ausführungen, meinen, den Ort, von dem ich da erzähle, auch namentlich zu kennen. Oder Sie meinen, mit einer kleinen Detektivarbeit herausfinden zu können, worüber ich schreibe, was ich aber nicht ausdrücklich benenne. Es ist aber nicht nur ein Ort. Es ist eine Gegend, ein Geruch, das Gefühl, die sanften Hügel, die Wiesen mit ihren Butterblumen, dem jauchegedüngten Löwenzahn, dem wilden Thymian, der auch Quendel heißt, den Lupinen, die hingestreuten Felder, die Waldflecken mit den Haselnuss- und Hollerstauden am Sonnenrand, die blühenden Birnbäume, der Duft des frischen Heus und des Kuhdungs. Der Ort, das sind die Menschen, die man kennt, mit ihren Weltanschauungen und Gefühlen, das sind Geschehnisse, Erinnerungen, Hoffnungen. Ich will dazu auch auf eine zenbuddhistische Weisheit verweisen, dass man nie zwei Mal in den gleichen Fluss steigen kann.
Der Ort ist letztendlich nur ein Flackern, ein Leuchten.
Der Ort ist jeden Augenblick ein neuer, und doch ist er verlässlich da.